© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/99 29. Januar 1999


Plebiszite: Die CDU, die Erinnerung an den "Schulkampf" von 1978 und die heutige Opposition
Die Regierung vor sich hertreiben
Karlheinz Weissmann

Unter den Vorwürfen gegen die Aktion, mit der die Einführung einer dauernden doppelten Staatsbürgerschaft verhindert werden soll, ist wohl der des "Populismus" am wirkungsvollsten. "Populistisch" möchten die Initiatoren nicht sein, vor allem die CDU nicht, die sich als entschiedene Verfechterin des Repräsentativsystems begreift. Das wirkt nur konsequent, denn die christlich-demokratische Partei als Staatspartei der Bundesrepublik schlechthin hat die Verfassungsordnung immer so gedacht, daß die direkte Mitbestimmung des Volkes auf ein Minimum beschränkt werden sollte.

Das Grundgesetz als Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung mit ihren umfassenden plebiszitären Möglichkeiten und die Deutung des Jahres 1933 als Scheitern einer Demokratie am Demos gehört aber nicht nur für Christdemokraten und Christlich-Soziale zu den – selten offen ausgesprochenen – fundamentalen politischen Wahrheiten. Volksbegehren und Volksentscheid erschienen den meisten Vätern und Müttern des Grundgesetzes als "Prämie für jeden Demagogen" (Theodor Heuss) und unbrauchbar, den Willen des Bürgers so weit zu läutern, daß er politisch tauglich würde.

Kritik an der Ausschaltung des Volkswillens nimmt zu

Derartige Skepsis ist im Kern nichts spezifisch Deutsches, sondern gehört seit den Tagen Montesquieus und der Unabhängigkeit der USA zur Anschauung von "Republikanern" im Gegensatz zu "Demokraten" und entspricht heute wieder dem Selbstverständnis einer aufgeklärten Elite, die ihre Einsichten denen der "dumpfen Masse" weit überlegen glaubt. Indes stellt sich bei konkreter Betrachtung gerade der Weimarer Demokratie die Frage, ob soviel Ablehnung des Plebiszitären tatsächlich historisch begründet werden kann.

Jedenfalls hat das Volk bei den Abstimmungen zur Fürstenenteignung wie zum Panzerkreuzerverbot und schließlich zum Young-Plan ungeachtet der heftigen Agitation stets redlich und nüchtern und richtig entschieden: für die Unantastbarkeit des Eigentums auch im Fall der alten Dynastien (trotz der allgemeinen Verarmung), für eine angemessene Bewaffnung (trotz der noch sehr gut erinnerten Schrecken des Krieges) und gegen eine Katastrophenpolitik (trotz der sehr begründeten Wut auf die Reparationsregelungen); ähnliches ließe sich auch für die allgemeine Volkswahl des Reichspräsidenten sagen, bei der die Bürger für den integren Hindenburg gegen den farblosen Marx und den Kommunisten Thälmann (1925) und noch einmal für Hindenburg gegen Hitler (1932) votierten. Indes ist nicht zu übersehen, daß am Ende der Weimarer Republik tatsächlich der Unwille des Volkes gegen die Verfassungsordnung eine entscheidende Rolle spielte. Dieser Unwille scheint jedoch weniger unverständlich, wenn man das vorhergehende und langanhaltende Versagen der parlamentarischen Repräsentation in Betracht bezieht. Dabei wirkten auch die Krisenbedingungen und die allgemeine Tendenz zur Verwandlung von Wahlkämpfen in Plebiszite zusammen, und es soll den Schöpfern des Grundgesetzes nicht bestritten werden, daß sie versucht haben, gegen die eine wie die andere Gefährdung Sicherheit zu schaffen.

Allerdings sind Verfassungen und ihre Bestimmungen keine göttlichen Offenbarungen. Sie beruhen immer auch auf sehr zeitgebundenen Einsichten und Anschauungen. Aus diesem Grund haben in den letzten Jahren Analytiker des politischen Geschehens Kritik an der notorischen Ausschaltung des Volkswillens durch das Grundgesetz geübt und sind für dessen stärkere Berücksichtigung eingetreten. Mit einem gewissen Erfolg auf den unteren Ebenen der Selbstverwaltung und in einigen Ländern, ohne Erfolg im Bund. Gegen den hinhaltenden Widerstand gerade der Unionsparteien konnte weder über die Wiedervereinigung oder die Fortgeltung des Grundgesetzes noch über die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung eine Entscheidung der Bürger herbeigeführt werden, trotz der elementaren Bedeutung dieser Fragen für das Volk. Die Argumente waren immer dieselben: Der Sachverhalt sei zu komplex, um ihn dem Bürger zur Abstimmung vorzulegen, die Themen führten zu einer Emotionalisierung, die nur Schaden anrichte; Argumente übrigens, die genausogut gegen jedes andere demokratische Prozedere vorgetragen werden könnten.

Die konsequent antiplebiszitäre Haltung von CDU und CSU erscheint jedoch in einem etwas anderen Licht, wenn man sich vor Augen führt, daß auch diese Parteien im gegebenen Fall, wenngleich zögernd, den Tugendpfad des Repräsentationsprinzips verlassen haben. So mobilisierte die Union im Februar und März 1978 schon einmal die Bevölkerung – wenn auch nur eines Bundeslandes – gegen ein ihr mißliebiges Gesetz, das die Einführung der sogenannten Koop-Schule in Nordrhein-Westfalen betraf. Die sozialliberale Regierung in Düsseldorf hatte damals den Plan gefaßt, eine die drei Schulzweige Gymnasium, Realschule, Hauptschule umfassende und einheitlich organisierende "Kooperative Schule" zu bilden, die nach den Worten des SPD-Landesvorsitzenden Johannes Rau endlich eine "humane, schülergerechte und ortsnahe Schule" ermöglichen sollte.

1978 trieb die CDU die Regierung Rau in die Enge

Die CDU, die katholische Kirche, der Philologenverband und die meisten Elternorganisationen vermuteten allerdings, daß die Koop-Schule (trotz der weiterhin selbständigen Lehrpläne für die Schulzweige) nur eine Vorstufe zur "sozialistischen Einheitsschule" sei, und bekämpften besonders die Schaffung einer für alle Kinder gemeinsamen "Orientierungsstufe" in den Klassen 5 und 6, nach deren Besuch erst über den weiteren Schulweg entschieden werden sollte.

Die in den siebziger Jahren bei großen Teilen der Bevölkerung noch lebendige Aversion gegen jede "Nivellierung", das Festhalten am Leistungsprinzip und die traditionelle Hochschätzung von Bildung trugen wesentlich zum Erfolg der Kampagne bei. Die Abwehr von SPD und FDP wirkte trotz der Unterstützung durch den DGB und insbesondere die Hilfe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft defensiv. Und das, obwohl der berüchtigte "Strukturplan" des Deutschen Bildungsrates von 1970 die Gesamtschule zur künftigen Regelschule erklärt hatte, obwohl sich die nordrhein-westfälische Union noch in ihren schulpolitischen Absichtserklärungen von 1973 und 1975 für die Kooperative Schule ausgesprochen hatte und in Niedersachsen kurz zuvor durch den CDU-Kultusminister Werner Remmers die Orientierungsstufe eingeführt worden war.

Der Erfolg des Volksbegehrens gab den Initiatoren schließlich Recht. Es kamen mehr als die geforderten 2,4 Millionen Unterschriften zusammen, der Landtag lehnte daraufhin die Einführung der Orientierungsstufe und des Koop-Konzeptes ab. Der Niveauverlust an den Schulen des Landes war trotzdem auf Dauer nicht zu verhindern, mußte jetzt aber über Schleichwege in die alten Organisationsformen hineingetragen werden. Der Grund dafür war nicht zuletzt, daß die Union bei der Landtagswahl von 1980 den Erfolg im "Schulkampf" nicht in einen Wahlsieg umsetzen konnte. Ein Scheitern, das allerdings weitgehend auf den tragischen Tod des Spitzenkandidaten der Union, Heinrich Köppler, unmittelbar vor dem Wahltag zurückgeführt werden muß.

Das Beispiel des nordrhein-westfälischen "Schulkampfes" ist für die Gegenwart insofern lehrreich, als sich hier gezeigt hat, wie eine bürgerliche Partei mit Erfolg die außerparlamentarische Opposition organisieren kann, wenn sie diesen Weg entschlossen genug verfolgt. Von Entschlossenheit ist aber zumindest die CDU weit entfernt. Das hat einerseits mit der Führungsschwäche Schäubles, andererseits mit einem Mangel an Übung zu tun.

Auch darf man nicht vergessen, daß in den vergangenen drei Jahrzehnten zwar die Linke jederzeit in der Lage war, Protestpotential auf die Straße zu rufen, es CDU und CSU aber kaum gelang, auch nur einen Demonstrationszug zustandezubringen. Der stereotype Hinweis auf die mangelnde Empörungsbereitschaft des bürgerlichen Lagers in der Bundesrepublik genügt dafür nicht als Entschuldigung, dieser Skandal ersten Ranges hängt in entscheidendem Maß mit der Konfliktscheu der Union, ihrem ideologischen Opportunismus und eben dem Mißtrauen gegenüber dem Volk zusammen.

Die tiefsten Ursachen für die Vorbehalte innerhalb der Union gegenüber der Unterschriftenaktion liegen deshalb auch nicht in der Angst vor deren Scheitern, sondern in der Angst vor dem Erfolg. Bereits die Erfahrungen in Hessen haben gezeigt, daß viele Bürger nicht nur ihren Unmut über eine konkrete Gesetzesvorlage der neuen Bundesregierung zum Ausdruck bringen wollen, sondern im gleichen Zug gegen die "multikulturelle Gesellschaft" stimmen möchten.

Die CDU ist konfliktscheu und opportunistisch

Viele in der Union sind sich darüber klar, daß sie auf die so geweckten Erwartungen werden reagieren müssen, und das heißt mit jener lautstarken Minderheit anbinden, die sich so gern in ihrer Aufgeklärtheit bestätigt sehen möchte durch den Abschied von Volk und Nation. Diese Minderheit hat ihre Vertreter auch in den eigenen Reihen, und die unerfreuliche Einigkeit von "Jungen Wilden", anderen führenden CDU-Parlamentariern, FDP und Koalitionsparteien in der grundsätzlichen Frage einer doppelten Staatsbürgerschaft ist mehr als aufschlußreich. Sie zeigt, daß eine Bereinigung der Lage innerhalb der Union unausweichlich wird.

Auf wessen Seite die Mehrheiten im Entscheidungsfall stehen würden, zeichnet sich schon ab, und die halbe Dissidenz ist – wie der Auftritt am 20. Januar in der Unionsfraktion gezeigt hat – das äußerste, wozu sich die Kritiker der Unterschriftensammlung entschließen können. Die Isoliertheit der "Modernisierer" haben selbst die Medien begriffen, die anfangs jedem Abweichler begierig das Wort erteilten, und auf seiten der Regierung ahnt man, daß die Union mit etwas Geschick eine Bewegung in Gang bringen könnte, die in ihrer Dynamik vor den Anhängern zumindest der Sozialdemokratie nicht halt machen würde (von denen sich schon jetzt mehr als die Hälfte gegen die Änderung des geltenden Rechts ausspricht); die hektischen Nachbesserungsangebote von Innenminister Schily für das neue Staatsbürgerschaftsgesetz lassen sich kaum anders erklären.

Die geschlossene Haltung der CSU und vor allem die Unbeirrbarkeit ihres Vorsitzenden Stoiber bei allen diesen Querelen ist kaum hoch genug zu bewerten. Sicher geht es auch um den politischen Ehrgeiz des bayerischen Ministerpräsidenten und um Machtfragen innerhalb der Union – wer spricht noch davon, die CSU könnte zu einer Regionalpartei von der Bedeutung der PDS herabsinken? –, es geht aber auch um Weltanschauung und um jenes Mehr an "Volksverbundenheit", das die Christlich-Sozialen immer besaßen und von dem die CDU so weit entfernt ist, der es nach dem Schwinden der Milieus ihrer früheren Anhängerschaft nie gelang, eine stabile neue Basis zu finden und deren Vordenker eine "liberale" Attitude pflegen, die sich von der Verachtung der misera plebs kaum unterscheiden läßt.

Dazu noch eine persönliche Anmerkung: Der Verfasser erinnert sich gut an ein Gespräch mit dem damaligen bayerischen Umweltminister Peter Gauweiler zu Beginn der neunziger Jahre; in der Unterhaltung ging es auch um die Zögerlichkeit, mit der die Konservativen dem Appell an das Volk gegenüberstehen, obwohl gerade die Wiedervereinigung gezeigt hatte, wie wenig Verlaß auf die Intelligenz und wie viel Verlaß auf den Instinkt des kleinen Mannes war; eigentlich merkwürdig, meinte Gauweiler, diese Skepsis der Bürgerlichen, denn "das Volk ist doch rechts".


 
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