© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Bilanz: Die rot-grüne Bundesregierung ist seit 100 Tagen im Amt
Ein virtueller Kanzler
Baal Müller

Nachdem sich der Regierungswechsel trotz des politischen Abtretens einer ganzen Generation so erstaunlich unpathetisch vollzogen hatte, kann auch nach der berüchtigten 100-Tagesfrist von Aufbruchstimmung keine Rede sein. Schwäche und Konzeptionslosigkeit in der Sache, Poltrigkeit und ungehobeltes Benehmen als Stil wurden Schröders Mannschaft von der gesamten Presse, einschließlich den staatstragenden, regierungsnahen Blättern wie der taz vorgehalten.

Großen Worten folgten wenig Taten: einige soziale Geschenke zu Weihnachten und ansonsten statt Kohlschem Aussitzen Schrödersches Zahnpastalächeln oder Lafontainesche Unverschämtheiten. Die ökologische Steuerreform? Aufgeweicht, um niemandem wehzutun. Das Bündnis für Arbeit? Man tut sein Bestes und hofft auf günstige Weltwirtschaft. Der Ausstieg aus der Atomenergie? Man studiert doch lieber erst die Rechtslage und gibt dann klein bei. Außen- und Sicherheitspolitik? Der eine poltert, und der andere beschwört die Kontinuität.

Selbst das Holocaust-Mahnmal, dieses Riesenlegoland der Berufsbetroffenen, scheint zum halbherzigen Kompromiß zu geraten. Immerhin ist Schröder anzurechnen, daß er die Gedenkvorschriften, wie jüngst bei der Einweihung des Jüdischen Museums in Berlin, etwas lockerer als üblich handhabt, und so zu einer allmählichen Entspannung und Entkrampfung beiträgt. Auch seine Ankündigung, in Zukunft weniger deutsches Geld von EU-Bürokraten "verbraten" lassen zu wollen, sichert ihm eine anhaltende Beliebtheit in den Umfragen. Ob derartige Äußerungen wirklich einer Trendwende entsprechen oder doch eher auf kurzatmigem Populismus und persönlicher Lässigkeit beruhen, bleibt allerdings abzuwarten. Nach wie vor gelingt es dem Kanzler, trotz seiner bislang mageren Bilanz, in den Medien das Bild des kraftvollen Machers und Managers aufrechtzuerhalten; sein gutes Image ist jedoch zu einem guten Teil nur das schlechte Erscheinungsbild seiner Minister sowie der Opposition. Ein ungehobelter grüner Umweltminister und ein Finanzminister, der die seinem Amt innewohnende Tendenz zur Unbeliebtheit aufgrund seiner persönlichen Qualitäten zu einer derart virtuosen Darbietung von Machtarroganz und etablierter Ekligkeit steigert, bilden das ideale Kontrastprogramm zu Schröders Polit-Show. Die geradezu hilflose Verzweiflung der CDU und das grämliche Gesicht ihres einstigen Kronprinzen Wolfgang Schäuble vervollständigen das für Schröder so günstige Bühnenbild. Schröders Macht ist bekanntlich vor allem eine virtuelle: die Macht der Bilder, die in der Fernsehdemokratie vor allem zählen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck hält ihn auf diesem Gebiet geradezu für "unschlagbar", was aus seiner Perspektive zweifellos richtig ist, scheint er doch die Ausstrahlung seines Vorgängers mit dem Charme seines Parteivorsitzenden aufpeppen zu wollen. Allerdings sind die Bilder auch in unserer Medienwelt noch immer nicht der allesentscheidende Faktor; vielleicht werden die in diesem Jahr anstehenden Wahlen, vielleicht auch die sich verändernden Realitäten der Berliner Republik die virtuelle Realität mit der tatsächlichen konfrontieren. Ein Erstarken der CDU ist bis auf weiteres allerdings nicht zu erwarten, trotz anzunehmender Achtungserfolge von einigen zusätzlichen Prozenten, die dann als Vorboten einer "Wende" verkauft werden würden. Solange die Union ihre Oppositionsrolle vor allem darin sieht, die Aktionsformen von Bürgerinitiativen halbherzig zu kopieren, ist von ihr nicht viel zu erwarten. Es wäre zu voreilig, ihre Unterschriftensammlungen bereits als ein Zeichen stärkerer Profilierung interpretieren zu wollen; bevor es zu einer solchen kommt, hat die CDU noch einige Wahlniederlagen nötig. Ihr scheinheiliger Populismus, das Volk zwar über die doppelte Staatsbürgerschaft von Ausländern befragen, nicht jedoch entscheiden lassen zu wollen, ist noch von demselben Pragmatismus geprägt, wie ihn Joschka Fischer an den Tag legt: Der einstige Revoluzzer und jetzige Außenminister warnt vor Volksentscheiden, während die Union Unterschriften sammelt. Statt einer klaren Entscheidung für oder gegen direkte Demokratie warnt man vor dem Volkswillen oder macht ihn sich zunutze, je nachdem wie es gerade opportun erscheint.

Bislang überwiegt noch eine schwammige Kontinuität der Regierungen, und Schröder macht, wie man sein bekanntes Motto abwandeln könnte, vieles schlechter, aber das meiste genauso; wenn sich jedoch das rot-grüne Milieu zunehmend über den Aufschub seiner traditionellen Forderungen beschwert und die Union etwas mehr zubeißt statt nur zu bellen, dann kann dies zu einer schärferen Profilierung führen. Immerhin sind mit dem Regierungswechsel mediale und institutionelle Herrschaft zur Deckung gelangt.


 
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