© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Kolumne:
Common sense
von Klaus Motschmann

Um die Jahrtausendwende ist ein Student zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er aus einem fahrenden Zug eine leere Flasche geworfen hatte, obwohl am Abteilfenster ein Schild mit der Aufschrift "Das Hinauswerfen leerer Flaschen ist verboten" angebracht war. Daraufhin haben einige Kommilitonen etwas später eine volle Flasche aus dem Zug geworfen. Sie wurden trotzdem bestraft, und zwar deutlich härter.

Der Richter ahndete damit nicht nur einen groben, möglicherweise aber gedankenlosen Verstoß gegen eine zugegebenermaßen ebenso gedankenlos formulierte Anordnung, sondern einen bewußten Verstoß gegen den Common sense, ohne den die beste Rechts- und Verfassungsordnung binnen kurzer Zeit ad absurdum und der Rechtsstaat in einen Rechts-mittel-Staat verwandelt werden kann.

Spätestens seit Lenins Anleitungen zur Strategie und Taktik revolutionärer Politik in den sogenannten bürgerlichen Gesellschaften wissen wir bzw. könnten es wissen: Wenn man durch "strikte Einhaltung und volle Anwendung" ihrer Verfassungen und Gesetze und Ausschöpfung aller Rechtsmittel das öffentliche Bewußtsein revolutioniert, dann hält die Wirklichkeit nicht mehr lange stand.

Deshalb kommt es nicht allein auf die "strikte Einhaltung und volle Anwendung" der formulierten Texte an, sondern gleichermaßen auf die Beachtung ihres Wesensgehaltes. Auch in diesem Zusammenhange gilt die biblische Weisheit "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig". Verantwortliche politische und rechtliche Entscheidungen und publizistische Kommentare dazu erweisen sich deshalb an der Fähigkeit, zwischen Legalität und Legitimität unterscheiden und dies auch verständlich machen zu können. Es mehren sich die untrüglichen Anzeichen, daß unsere großen politischen Auseinandersetzungen, aber auch das Rechtsbewußtsein immer größerer Gruppen unseres Volkes von der Fixierung auf den Buchstaben der Verfassung und der Gesetze bestimmt wird. Der Common sense spielt keine Rolle mehr; nicht nur dies: er wird im günstigsten Falle als "Stammtisch-Philosophie", üblicherweise jedoch als Rückfall in das "gesunde Volksempfinden" diffamiert. ("Das hatten wir doch schon mal ..... ").

Um nicht in diesen Verdacht zu geraten, empfielt sich das Engagement für die "strikte Einhaltung und volle Anwendung" der Verfassung ohne jede Rücksicht auf den Common sense. Das hatten wir zwar auch schon mal. Es hat sich aber als politisches Kampfmittel bewährt. Deshalb haben wir es noch immer.


 
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