© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Privatisierung: Eine Gefahr fürs Gemeinwohl?
Kapital statt Arbeit
Jutta Winckler

Der moderne Kapitalismus, die einzige wirkliche Weltrevolution in Permanenz, findet rasant zu sich selbst. Was "Globalisierung" genannt wird, ist weder Wettbewerb noch Marktkonkurrenz – es ist ein Königsweg zu deren tendenzieller Abschaffung. Am Horizont werden die Umrisse jener total verwalteten Welt erkennbar, vor deren Heraufkunft der späte Herbert Marcuse beschwörend warnte. Der politische Ausdruck dieses Verwaltetwerdens ist ein sich epidemisch verbreitender, totalitär entarteter Demokratismus von Gnaden parteiförmiger Seilschaften; seinen sozialen Inhalt stellt das konsumistische Menschenrecht auf asymptotisch-grenzenlosen Ressourcenverbrauch.

Als Rückgrat dieser Totalverwaltung aber mußte die "Weltwirtschaft" entstehen, die nirgends authentische Bedürfnisse befriedigt. "Die Macht der Tendenz" (Hegel) läßt vermuten, daß sich das Chef-Totem der Epoche, die Weltwirtschaft, künftig so totalverwaltet präsentiert, daß zwei, drei Multis ausreichen, um sämtliche relevanten Wirtschaftsvorgänge der Welt zu kontrollieren. Der anthropologische Sinn solcher gattungsgeschichtlichen Veränderung bleibt der Gegenwart naturgemäß verborgen – ihr rechtlich-institutioneller Zuschnitt hingegen tritt von Tag zu Tag, von Firmenfusion zu Firmenfusion greller hervor: Privatisierung. Was nach umfriedetem Gärtlein und eigenen vier Wänden klingt und in Vollzug doch alles andere als eine spätbürgerliche Idylle ist.

Die Privatisierungspost geht ab! Mitten in der Postmoderne wurde sie von der ad hoc modernsten Ballungsweise des Kapitals aufs Gleis gesetzt, sekundiert von neoliberalen Markt-Astronomen mit Nobelpreis, begleitet vom weißen Rauschen kommunitaristischer Claqueure, begrüßt von den Sophisten der Exxon, IBM und Ford. Figuren vom Schlage Norbert Bolz, Matthias Horx oder Peter Sloterdijk glauben, bei "den Europäern" einen "Nachholbedarf an Calvinismus" diagnostizieren zu sollen. Das meint zweifelsohne, als mehrheitlich katholisch-orthodox geprägtem Lebensraum gerate Festlandeuropa seine Wirtschaftsphilosophie, je länger desto mehr, zum entscheidenden Nachteil im globalen Kampf um Marktanteile und Absatzchancen. Und in der Tat kam es in Alteuropa zu einem politisch erzeugten und rechtlich-institutionell abgesicherten Ausgleich zwischen Produktion und Protektion, zu einer grandiosen Zivilisationsleistung, die den Prozeß des Wirtschaftens hegte, indem sie ihn als Funktion einer höherwertigen Sphäre relativierte. Hieß es lutheranisch: Arbeit macht frei, so setzten römisch-katholische Soziallehre und, östlich modifiziert, die egalitär-brüderliche Christlichkeit eines Tolstoi auf Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, auf Kompromiß und sozialen Ausgleich, auf Milderung der Gegensätze zwischen Arm und Reich, auf maßvolle Einebnung des Unterschieds von Besitzenden und Habenichtsen.

Nun wird aber von interessierter Seite der Abschied von dieser Art "rheinischen Kapitalismus" gefordert. Das calvinistische Wirtschaftsdenken, in der ersten Jahrhunderthälfte von Max Weber, Ernst Troeltsch und Müller-Armack exzellent analysiert, stellt ein Gegenmodell aus dem Geist des Protestantismus dar. Die starke Rolle des Prädestinationsgedankens führt dazu, daß zur Arbeitsaskese, zur Vorstellung religiöser Heilsvergewisserung durch innerweltlich erfolgreiche Erwerbsaktivität und Kapitalbildung, ein fast hinduistisches Motiv komplementär hinzutritt: die Überzeugung, daß, wer arm ist, sein Los letztlich göttlichem Ratschluß verdankt. Der Reiche darf dies guten Gewissens sein, letztlich ist nicht er, sondern Gott selbst Schmied dieses seines Glückes.

Das Kapital findet sich – Bank zu Bank, Trust zu Trust, Branche zu Branche: schon ist absehbar, daß zwei, drei Auto- und Flugzeugbauer den gesamten Weltkuchen unter sich aufteilen. Energieriesen heiraten, Pharmagiganten schieben sich ineinander, Stahlkocher fusionieren und keiner weiß, wozu das gut sein soll, denn den Hochzeiten der Aktionäre folgt der Katzenjammer der Belegschaften. Sie werden gleich zigtausendfach "freigesetzt". Ganze Branchen wandern aus, sterben weg, traditionsreiche Industriereviere veröden.

Privatisieren – das kommt von "privare", einem lateinischen Verb, das der Georges u.a. mit "rauben" übersetzt. Geraubt wird, auch hierzulande von schwarzen, roten und grünen Fundis der Privatisiererei, nicht zuletzt Staatlichkeit, das (in emphatischem Sinn) Politische, die Fähigkeit, das Wirtschaftliche nicht absolut und total werden zu lassen. Bildungswesen, wissenschaftliche Forschung, der Sicherheitsbereich – zentrale gesellschaftliche Bereiche, die dem Verwertungs- und Profitinteresse des global vagabundierenden, verantwortungslosen Kapitals unterworfen zu werden drohen. Würde dies bis zur total verwirtschafteten Welt gelingen, fände sich eine blindlings die Grundlagen ihrer Existenz verbrauchende Gattung zurückgekreuzt zum findigen Tier, zu einer einzigen milliardengroßen Freßzelle. Und so hätten die frenetischen Konsumenten, von denen auch der Ärmste nicht schuldlos ist, letztlich sich höchstselbst konsumieren lassen – vom Kapital, das weder Mythos noch Mysterium ist, und ebensowenig Ideologie oder Klasse, sondern nichts als der Mensch in seinem abgründig selbstischen, unstillbar gierigen Wesen.


 
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