© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Irakisierung
Karl Heinzen

Haben sich die Nachfahren der Täter den Ausstieg aus der Kernenergie moralisch überhaupt schon verdient? Nach allem, was geschehen ist, ist es nicht leicht, wenn nicht gar unmöglich, sich hierzu eine Meinung zu bilden. Auf jeden Fall wären eigentlich andere Prioritäten verlangt: Es gibt wichtigeres als die Zukunft. Und doch legen Jürgen Trittin und seine SchreibtischtäterInnen in der Umsetzung der Beschlüsse des AStA Göttingen vom Wintersemester 1977/78 ein Tempo an den Tag, als wäre die Union weiterhin am Ruder und gelte es, den Euro noch einmal pünktlich einzuführen. Wenn die neue Regierung wirklich davon überzeugt ist, daß der Staat die Ressourcen verknappen muß, da der Markt dies nicht von allein schafft, dann läge hier doch eine gute Chance, die seit mehr als einem halben Jahrhundert ungebrochene Kontinuität deutscher Außenpolitik zu unterstreichen und denjenigen Freunden und Partnern den Vortritt zu lassen, die ihn auch ansonsten haben. Außer Daniel Cohn-Bendit scheint dies aber niemand so sehen zu wollen.

Was ist geschehen? Fühlt sich die Regierung über Nacht den Interessen ihres Landes verantwortlich? Ist eine heiße Liebe zu den Menschen, die hier leben, entbrannt, obwohl gerade einmal jeder achte bis zehnte von ihnen ein Ausländer ist? Vielleicht ist es doch eher so, daß Schröder schon allein aufgrund seines jugendlichen Aussehens in längeren Fristen denkt. Ein Helmut Kohl hätte den Ausstieg aus der Kernenergie allenfalls so zu rechtferigen gewußt, daß im Falle neuerlicher alliierter Bombenangriffe die Schäden dank dieser Vorsorge nicht ganz so fürchterlich wären. Daraus hätte dann sein immenser Erfahrungsschatz, vor allem aber seine begrenzte Voraussicht gesprochen. Er hätte es sich einfach nicht vorstellen können, daß irgendwann irgend jemand auf die Idee kommen möge, das Atomwaffenmonopol der dann vielleicht dreißig oder vierzig Nuklearmächte zu brechen.

Gerhard Schröder weiß aber, daß man auf einen solchen Fall vorbereitet sein muß und es in diesen Zeiten, in denen man eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zimmert, als ein Zeichen guten Willens angesehen wird, wenn Deutschland auch die zivile Nutzung der Nuklearenergie ad acta legt. Niemand soll mehr einen Vorwand haben, sich mit diesem Thema in unlauterer Absicht zu befassen. Keine deutsche Regierung wird es in Zukunft daher wagen können, einen Ausstieg zu versuchen: Sie würde internationalen Verdacht auf sich laden und das Land der Gefahr einer Irakisierung aussetzen.

Das Bemühen, zukünftige Generationen von Irrwegen der Vergangenheit abzuhalten, ist es also, das Gerhard Schröder leitet, und er teilt es mit seinem Amtsvorgänger. Es macht keinen Sinn, den Deutschen von morgen Handlungsoptionen offenzuhalten, wenn wir nicht wissen, was sie mit diesen anfangen werden. Was heute hingegen von uns erwartet wird, können wir sehr gut beurteilen.


 
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