© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/99 05. Februar 1999


Lessingtage in Kamenz: Bekenntnis zur Ringparabel
Utopien und Wirklichkeit
Uwe Ullrich

Seit 1954 wird in Kamenz, dem Geburtsort Gotthold Ephraim Lessings, der nach ihm benannte und mit 25.000 Mark dotierte Literaturpreis vergeben. Zum vierten Mal wählte der Freistaat Sachsen den Preisträger aus. Im vergangenen Jahr fanden die Lessingtage ohne Würdigung eines Literaturpreisträgers statt. Einer der Gründe dafür dürfte im Eklat bei um die Dankesrede des damaligen Preisträgers Wolfgang Hilbig zu suchen sein. In seiner Rede beschrieb Hilbig eigene Erfahrungen seit 1990. Beim Nachdenken über die deutsche Vereinigung dränge sich ihm das Wort Kolonialismus auf. Vielleicht, so der Lyriker und Prosaschriftsteller, "wäre es gescheiter, den Akt der Wiedervereinigung als eine Art Unzucht mit Abhängigen zu bezeichnen ... Unsere Langmut ist nicht zu fassen, vielleicht wird uns eines Tages die Erkenntnis kommen, daß erst jener Beitritt zur Bundesrepublik uns zu den DDR-Bürgern hat werden lassen, die wir nie gewesen sind."

In diesem Jahr kürten die Juroren den tschechisch-jüdischen Literaturwissenschaftler Eduard Goldstücker zum Preistäger. Der sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Hans-Joachim Meyer, ließ in seiner Eröffnungsrede die Motivation für diese Wahl durchklingen. Im Unterschied zu anderen Aktivisten des "Prager Frühlings" sei der Geehrte sich und seiner Sache treu geblieben. Im Sinne Lessings habe sich Goldstücker um Wahrheit und Klarheit bemüht, zwischen scheinbar gegensätzlichen Ideen und Anschauungen zu vermitteln versucht und seine früheren kommunistischen und sozialistischen Ideale zuallererst als Gebote der Versöhnung unter den Menschen begriffen.

Die Entscheidung für Goldstücker, so konnte man inoffiziell vernehmen, soll durchaus auch ein Denkanstoß in Richtung Prag sein. "Wenn heute eine deutsche Landesregierung es unternimmt, Eduard Goldstücker im Namen Lessings zu ehren", sagte Laudator Adolf Dresen, "so ehrt sie damit auch sich selbst." Bei allem Lob vergaß er nicht den Hinweis, daß hierzulande auch frühere DDR-Oppositionelle in verschiedener Weise benachteiligt sind.

Der in Deutschland relativ unbekannte Kamenzer Lessingpreisträger dieses Jahres wurde 1913 im böhmischen Podbiel geboren. An der Prager Karlsuniversität studierte Goldstücker Literaturwissenschaft. In Prag sah er erstmals 1933 "Nathan der Weise" mit Albert Bassermann in der Hauptrolle. Für ihn war es eines seiner schönsten Theatererlebnisse: "An jenem Abend wurde man von den drei Ringen um so mehr zu Tränen gerührt, als man unfähig war, aus dem Hintergrund des Bewußtseins den fast vernehmbaren Lärm der Straßenkämpfe und das Gebrüll der Judenhetze in deutschen Städten zu verscheuchen, die mit der Zurücknahme all dessen drohten, was Lessing und die Aufklärung der Nachkommenschaft als Verheißung hinterlassen hatte."

1939 emigrierte er nach London, wird später tschechischer Attaché in Paris und Botschafter in Israel und Schweden. Wegen vorgeblicher "trotzkistisch- zionistischer Verschwörung" verurteilte man ihn 1951 zu lebenslänglicher Kerkerhaft. Sechs Jahre danach entließen die Machthaber Eduard Goldstücker und beriefen den Wissenschaftler im folgenden Jahr auf den Lehrstuhl für Germanistik an der Karlsuniversität, deren Rektor er 1968 wurde. Nach dem Scheitern des "Prager Frühlings" floh er über Wien erneut nach Großbritannien, wo Goldstücker bis 1978 Literaturwissenschaft lehrte. Seit 1991 lebt er wieder in Prag.

Der heute 85jährige Gelehrte bekennt sich zu seinen gesellschaftsverändernden Vorstellungen: "Wenn man nicht bereit ist, etwas für seine Ideale zu riskieren, gibt es keine Veränderungen, nirgendwo auf der Welt." Die Erfahrungen seines langen Leben prägen die Sichtweise auf das vergangene Jahrhundert. Er sieht in ihm den "wichtigen Versuch, utopische Ideale zu verwirklichen". Die Wirklichkeit der gegenteiligen Praxis verdient deren Scheitern: "Nun muß sich eine andere Variante der Zukunftsideen entwickeln, etwas völlig Neues. Oder gar nichts mehr."

Die beiden Förderpreise mit je 10.000 Mark gingen an Marion Titze und Marcel Beyer. Deren Arbeiten lobte Hans-Joachim Meyer für ihre Offenheit und den erprobten Umgang mit den Ausdrucksmitteln.

Nähere Informationen über die noch bis Ende Februar stattfindenden Veranstaltungen und Ausstellungen anläßlich der 38. Festtage sind im Lessing- Museum in Kamenz unter der Telefonnummer 0 35 78 / 38 08-0 zu erfragen.


 
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