© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


EU-Gipfel auf dem Petersberg: Streit um "Agenda 2000" ungelöst
Schröder in der Zwickmühle
Johanna Christina Grund

Der Verteilungskampf um die Finanzmittel der Europäischen Union nimmt immer dramatischere Formen an. Weder die unter massiven Protesten von 40.000 Bauern aus allen EU-Ländern laufenden Verhandlungen der Agrarminister in Brüssel noch der "Such- und Orientierungsgipfel" der Regierungschefs am vergangenen Freitag auf dem Petersberg bei Bonn haben in den Streitpunkten "Agenda 2000" und Neuordnung der Regionalförderung Ansatzpunkte für eine Einigung erbracht. Das sind alles Themen, die die deutsche Ratspräsidentenschaft von ihren österreichischen Vorgängern ungelöst weitergeschoben erhielt. Auf rührend dilettantische Art setzten sich Bundeskanzler Schröder und sein Außenminister Fischer selbst unter Zeitdruck, als sie die Lösung dieser an sich unlösbaren Probleme auf dem Berliner Sondergipfel Ende März ankündigten. Drei Wochen davor sind sie von einem einvernehmlichen Beschluß der 15 Regierungschefs über die Agenda und die Geldaufteilung weiter entfernt denn je.

Die Euroturbos in Kommission und Ministerrat sind für das mögliche Desaster ihrer ebenso visionär wie wahnwitzig anmutenden Politik selbst verantwortlich. Sie haben mit den als "irreversibel" umjubelten "Heldentaten" von Maastricht und Amsterdam 1992 und 1996 ihre Heimatländer und deren Bürger in einen Geisterzug gesetzt, der nicht mehr bremsbar ist, es sei denn durch Entgleisung. Deshalb wird eine durch die Gefahr der Zugkatastrophe erzwungene Einigung auf dem Berliner Gipfel wahrscheinlich erst wieder nach einer "Nacht der langen Messer" verkündet werden. Denn das unermeßliche Glück, diese ganze EU loszuwerden, wird weder den in ihrer Existenz bedrohten Landwirten noch den für die "Osterweiterung" mit einem niedrigen Lebensstandard "beglückten" anderen Bürgern beschieden sein. Sie müssen den Kelch ihrer Wahl bis zur bitteren Neige austrinken.

Die Szenerie, vor der sich die unerquicklichen Auseinandersetzungen um großmächtige Ansprüche und bescheidene finanzielle Möglichkeiten abspielten, ist doch atemberaubend. Erst bricht die EU mit dem "Euro" der Finanzhoheit der Teilnehmer an der Währungsunion das Rückgrat, dann droht sie mit dem Scheitern des Kunstgeldes bei Ablehnung der "Agenda 2000". Erst beginnt sie Aufnahmeverhandlungen mit sechs bekanntermaßen armen Beitrittskandidaten Mittel- und Südosteuropas, dann will sie die Zahlungen dafür nach Art eines Zuchtmeisters durchdrücken.

 

Als erstes sollen jetzt die Bauern bluten

Die ersten Schröpfopfer der Brüsseler Technokraten sind die Bauern. Ihre Dezimierung über Preissenkungen und degressive Ausgleichszahlungen folgt zwei strategischen Zielen:

1. Nach Wegfall der nationalen Agrarmarktordnungen und des Schutzes vor ungehemmten Billigimporten aus Ländern mit Niedriglohnniveau und mit industriell geführter Landwirtschaft müssen die bäuerlichen Familienbetriebe gestützt werden, weil sie die Produkte ihrer Arbeit nur unter Selbstkostenpreis verkaufen können. Mittlerweile fressen die Agrarsubventionen mit 80 Milliarden Mark fast die Hälfte des gesamten jährlichen EU-Budgets auf. Ungebremst würden sie bis 2006 auf 115 Milliarden steigen. Landwirtschaftskommissar Franz Fischler will die Ausgaben dafür aber nur bis 2003 auf 96 Milliarden ansteigen lassen und dann auf dieser Höhe einfrieren. Dazu sollten laut "Agenda 2000" die Interventionspreise, die den Bauern bisher einen Mindesterlös garantierten, bei Getreide um 20 Prozent, bei Rindfleisch um 30 Prozent und bei Milch um 15 Prozent gesenkt werden. Das soll Überschußproduktion verhindern und den Verkauf der Produkte auf dem Weltmarkt zu dort üblichen niedrigen Preisen fördern. Die Bauern sollen Ausgleichszahlungen für ihre geringeren Einnahmen mit absteigendem Volumen bis 2002 erhalten, ohne daß ihre Verluste gedeckt werden. Laut Bauernverbandspräsidenten Gerd Sonnleitner kostet dieses Modell die heimischen Landwirte vier Milliarden Mark.

Der Kompromißvorschlag der deutschen Ratspräsidentenschaft, vorgetragen durch Minister Heinz Funke (SPD), sieht bei Rindfleisch nur eine Senkung von 25 Prozent der Stützpreise vor, beruht aber auf einem Co-Finanzierungsmodell für die Ausgleichszahlungen. Diese sollten aus den nationalen Budgets gedeckt werden. Funkes Plan wurde vom französischen Agrarminister Jean Glavany weggefeht. Kein Wunder: Frankreich profitiert in besonderem Maße von Agrarsubventionen. Und Spaniens Ministerpräsident José Aznar legt sich in Bonn ebenso quer wie vorigen Dezember in Wien: "Man kann über alles reden, nicht aber über die EU-Subventionen für Spanien."

2. Das Höfesterben in der Landwirtschaft wird von der Brüsseler Kommission billigend hingenommen. Seit der Einführung des "gemeinsamen Agrarmarktes" gingen in der Bundesrepublik über eine Million landwirtschaftlicher Betriebe unter. "Agenda 2000" und GATT-Einbindung fördern die Existenzvernichtung und den Abbau der Landwirtschaft auf autarker Basis. Auf diese Weise wird jeder Mitgliedsstaat grenzenlos erpreßbar, weil nicht mehr aus eigener Kraft mit Lebensmitteln versorgbar und damit von Importen anhängig. Der Weg hinaus aus dem Käfig der EU ist damit für alle Zeit unmöglich.

Die Osterweiterung des Kolosses nur um die ersten sechs der elf Kandidaten kostet bei günstiger Wirtschaftsentwicklung laut Berechnung der Kommission zirka 92 Milliarden Mark. Erzielt die "Agenda 2000" ihr Einsparungsziel im Agrarbereich, werden die bisherigen Regionalförderungen nach dem Ziel-1-Modus gekürzt. 319 Milliarden Mark verteilte die EU im Zeitraum von 1994 bis 1999 nach dem Gießkannenprinzip an Gebiete, deren wirtschaftlicher Standard nur maximal 75 Prozent des Durchschnitts in der Union erreicht. Der in förderungsberechtigten Regionen wohnende Bevölkerungsanteil soll von heute 51 Prozent auf 35 bis 40 Prozent reduziert werden, wobei Brüssel laut Finanzstrukturreform alle Entscheidungen über Fördergebiete und Objekte an sich ziehen will. Dieser Plan hat den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber schon erregt. Anläßlich einer Podiumdiskussion mit EU-Wettbewerbskommissar Karel van Miert erklärte er: "Das ist ungeheuerlich. Deutschland soll verboten werden, eigene Fördermittel nach eigenem Maßstab zu verteilen. Wir können immer weniger selber regeln. Und das vernichtet die Demokratie in unserem Lande. Ich fordere Kanzler Schröder auf, die Gestaltungsfreiheit der Länder auf dem Gipfel in Bonn und Berlin zu verteidigen."

 

Schröder hat ein nüchternes Verhältnis zur Union

Mit der Aufnahme von Ungarn, Tschechien, Polen, Slowenien, Estland und Zypern wird ein rapides Absinken des Wohlstandsdurchschnittes in der EU ohnehin eintreten. Dann erscheint höchst fraglich, welche deutschen Gebiete noch unter 75 Prozent dieses neuen Bemessungsmaßstabes liegen. Das auf diese Weise vereinigte EU-Europa wird ärmer sein, als jeder Bürger hierzulande sich das momentan vorstellen kann. Wenn bisher in der Bundesrepublik wegen des gleichen Wohlstandsniveaus schon ein Gerangel zwischen reichen und armen Ländern um den Finanzausgleich stattfand, so werden auf Basis der erweiterten EU-Transferzahlungen immensen Ausmaßes zu leisten sein.

Zu Zeiten der Regierung Kohl konnten alle EU-Staaten sicher sein, daß Kohl zahlt. Die Regierung Schröder indessen hat ein nüchternes, kein euphorisches Verhältnis zur EU und besteht ungeachtet des höheren Geldbedarfs auf Entlastungen von den 22 Milliarden Mark Nettozahlungen nach Brüssel. In dieser Forderung liegt die Ursache der schweren Verstimmung mit Frankreich und den Südländern. Diese vertreten selbstverständlich ihre nationalen Interessen und kennen keine Kompromisse. "Der Britenrabatt", so erklärte Premierminister Tony Blair auf dem Petersberg, "ist nicht verhandelbar." Frankreichs Präsident Jacques Chirac warf bei der Ablehnung des deutschen Co-Finanzierungsplanes, der die französischen Beiträge auf ein der Wirtschaftskraft des Landes entsprechendes Maß anheben soll, der deutschen Regierung vor, sie denke nur an die Finanzen und sei nicht mehr von "europäischem Geist" beseelt. Sie ließe es als Ratspräsident an der gebotenen Neutralität fehlen und werde Europa in eine Krise stürzen.

Schröder gerät in eine üble Zwickmühle. Verlangt er weiter eine Minderung der deutschen Nettozahlungen um 7,5 Milliarden Mark, ließen die Nettoempfänger die "Agenda 2000" scheitern, würden sie die Aufnahme neuer Mitglieder auf die lange Bank schieben, stürzten sie die EU und den "Euro" in eine tiefe Krise und gäben den Deutschen die Schuld dafür. Der "Euro" verliert ohnehin an den internationalen Börsen an Wert, büßte seit dem 4. Januar gegenüber dem US-Dollar schon 6,95 Prozent seines Kurses ein und wird zu der von Finanzexperten vorausgesagten Weichwährung. Da zumindest elf der 15 Mitgliedsstaaten aber ihr nationales Geld dem "Euro" geopfert haben, werden alle Mitläufer geköpft, wenn der "Euro" abstürzt.

Auf einer Rundreise durch alle Hauptstädte der EU-Länder will Schröder im März retten, was zu retten ist. Ausgerechnet die CDU, die in ihrer 16jährigen Regierungszeit die EG und später die EU zu dem unbremsbaren Koloß machte, der sie heute ist, verlangt nun von der rot-grünen Regierung die Entlastung um jene 7,5 Milliarden Mark, die sie selbst nie durchzusetzen wagte. In ihrem neuesten Positionspapier drohte sie andernfalls mit einer Blockade der "Agenda 2000" im Bundesrat. Jeder Mitgliedsstaat, so postuliert das Positionspapier der CDU, solle künftig nur so viel in die Gemeinschaftskasse einzahlen, wie seinem Bruttosozialprodukt in Kaufkraftstandards entspreche. Die Nettobeiträge müßten sich künftig am Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit orientieren.

Schröder kann höchstens 1,5 Milliarden für Bonn durchsetzen, soll der Gipfel Ende März in Berlin nicht scheitern. Noch Mitte 1998 hat Schröder, damals noch als Ministerpräsident von Niedersachsen, gefordert, Deutschland müsse um 14 Milliarden entlastet werden. Entweder er verliert an Prestige in der EU und bringt mit der "Agenda 2000" die gesamte Ratspräsidentenschaft zum Scheitern oder er wird in Deutschland unglaubwürdig, ein Objekt von Hohn und Spott der geprellten und durch große Worte betrogenen Bürger und der schadenfrohen Opposition.

Eine Krise der EU wäre das Beste, was der Bundesrepublik passieren könnte, wenn diese Krise das Syndikat auf jenen Status zurückverwiese, der für ein dann wieder souveränes und handlungsfähiges Land erträglich wäre, und die Traumtänzer von Brüssel von ihrem Größenwahn erlöste. Daß es beim Sondergipfel in Berlin schon dazu kommt, ist allerdings unwahrscheinlich. Der Irrweg der EU ist also noch nicht zu Ende.


 
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