© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


England: "New Labour" mit altbekannten Schwierigkeiten
Modernisierung stockt
Michael Walker

Als "New Labour" im Mai 1997 unter Tony Blairs Leitung ihren erdrutschartigen Wahlsieg feierte, sahen viele darin ein Zeichen, daß die Öffentlichkeit die Skandale der konservativen Tories leid und durch die offenkundige Uneinigkeit innerhalb der Partei verunsichert war. Daher ist es der Labour Party wichtig gewesen, der Öffentlichkeit ein Profil zu präsentieren, das die Einheit und Ehrlichkeit dieser Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängern betont. Die Ereignisse der letzten Zeit haben dieses Bild in Frage gestellt.

Blairs Modernisierung der Labour Party basierte hauptsächlich auf dem Argument, daß sie sich von einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei der Mittelklasse wandeln müßte, um Wahlen gewinnen zu können. Dementsprechend löste die Akzeptanz des freien Unternehmertums ein quasi-marxistisches Bekenntnis zur Verstaatlichung der Produktionsmittel ab. Wie Tony Blairs Mentor Peter Mandelson es ausdrückte: "Wir stehen sehr locker dazu, daß Leute stinkreich werden."

"Wir sehen es locker, wenn die Leute reich werden"

Dagegen spricht sich Tony Giddens, ebenfalls ein enger Freund Blairs, für eine Gesellschaft aus, die der Einkommensungleichheit Grenzen setzt und die Wirtschaft in einer "reflexiven" Weise zu regulieren lernt. Finanzminister Gordon Brown stimmt ihm offensichtlich zu. Die Mitglieder der Regierung sind sich uneinig, ob staatliche Eingriffe in den freien Markt wünschenswert sind oder nicht. Die alte Linke wurde überredet, radikale Änderungen von Parteiprogramm und -philosophie zu akzeptieren, da dies der einzige Weg sei, an die Macht zu kommen, und Labours Wahlsieg gab Blairs These recht. Anstelle des Parlamentes hat Blair einen präsidentialen Stil konsensualer Politik und Kontrolle entwickelt, der als "populistischer Korporatismus" bezeichnet wurde. Im Grunde geht es um Pragmatismus und Management, auch wenn er seine Legitimation in der Popularität sucht. Für New Labour mißt sich gute Regierungsarbeit nicht an der Treue zu Idealen oder zur Tradition, sondern an Effizienz und Ehrlichkeit.

Die Schaffung eigener Parlamente in Schottland und Wales hat dem keltischen Separatismus einen Auftrieb gegeben, so daß die Scottish National Party inzwischen über etwa 25 Prozent der Wählerstimmen in Schottland verfügt. Viele Labour-Anhänger sind nicht glücklich über die Ermutigung zum Separatismus, aber wenige wagen es, dies auszusprechen. So ist die Spannung zwischen erfolgreichen Lokalpolitikern und solchen, die von der Parteizentrale unterstützt werden, ständig gestiegen. Ende 1998 zwang ein Klatschspalten-Skandal, der den wildesten Ausschreitungen der Tories durchaus das Wasser reichen konnte, den für Wales zuständigen Minister, Ron Davies, von seinem Amt zurückzutreten, nachdem er bei einem Mitternachtsspaziergang auf dem Clapham Common in London die sehr intime Bekanntschaft eines schwarzen Gentleman gemacht hatte, der ihn dafür belohnte, indem er ihn zusammenschlug und ihm seine Aktentasche stahl. Ron Davies war für die Position des Parteivorsitzenden im walisischen Parlament vorgesehen. Wer diese ausfüllen soll, ist ein Streitpunkt zwischen der walisischen Labour Party und der Zentrale in London.

Es ist ein Paradox, daß eine der Reformen der New Labour darin bestand, die Dezentralisierung der Macht zu fördern, während gleichzeitig der Kern ihrer Philosophie eine starke zentrale Kontrolle der Partei erfordert, um Einigkeit zu gewährleisten und den Medien eine geschlossene Front zu präsentieren.

Die Regierung ist ebenfalls entschlossen, die Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von London keinesfalls Ken Livingstone zufallen zu lassen, einem exzentrischen Linken, der sich Molche als Haustiere hält, die palästinensische Sache gegen Israel unterstützt, mit einem provinziellen Akzent spricht und auch ansonsten drastisch vom Profil des zeitgemäßen Labour-Mannes abfällt, der moderat, modern und elegant sein sollte. Livingstone erfreut sich zwar großer Beliebtheit bei Londoner Labour-Wählern, ist aber ein Ideologe, der an "traditionelle Labour-Werte" wie staatliche Kontrolle der Wirtschaft und starke Gewerkschaften glaubt. Labour ist nicht länger die Partei der Produzierenden, sondern die der Konsumenten, aber ihr linker Flügel beherbergt viele, die für eine Rückkehr zu einer pro-gewerkschaftlich und anti-kapitalistisch orientierten Politik zu agitieren begannen, sobald sie den Verdacht hatten, Tony Blair verliere seinen Halt. Einer von ihnen ist der Finanzminister Gordon Brown, der die Wahl zum Parteivorsitzenden gegen seinen alten Freund Tony Blair verlor, der aber Mandelsons Lockerheit gegenüber den "Stinkreichen" nicht teilt. Peter Mandelson, der zunächst Minister ohne Geschäftsbereich und dann Minister für Handel und Industrie wurde, war laut Klatschpresse wie Davies "überzeugter Junggeselle" und trug den Spitznamen "Sinister Minister" ("Unheimlicher Minister"), bevor Enthüllungen über finanzielle Unregelmäßigkeiten ihn zum Rücktritt zwangen. Diese Enthüllungen stammten von Charles Whelan, persönlicher Freund und Pressesprecher von Gordon Brown. In der Folge mußte Whelan selber ebenfalls zurücktreten. Mandelson war einer der leidenschaftlichsten Befürworter einer Reform des britischen Wahlsystems von einem "Als Erster durchs Ziel"-System zu einem Listenwahlsystem deutschen Stils. Dies würde das Machtzentrum radikal von den Ortsgruppen hin zum Parteiapparat verschieben und ein System wie das deutsche schaffen, das Politiker vor direktem Kontakt mit den Wählern abschirmt.

Unheimlicher Minister Mandelson zurückgetreten

Für den linken Flügel der Labour Party, der seine Anhängerschaft auf der lokalen, nicht der zentralen Ebene hat, kommt dies nicht in Frage. Sie befürworten die Beibehaltung des jetzigen Verfahrens, in dem der Kandidat für einen Wahlbezirk nicht von der Parteizentrale, sondern von den Bezirksmitgliedern ernannt wird. Gerüchten zufolge hat Verkehrsminister John Truscott, der sich widerwillig bereiterklärt hat, keine Äußerungen gegen Gewerkschaftsreform, europäische Währungsunion und Budgetausgleich zu machen, sich bei der Reform des Wahlverfahrens stur gestellt und mit offenem Widerstand gegen jeden Versuch gedroht, das britische Wahlsystem zu ändern.

Das Problem für New Labour liegt hier darin, daß ein vereinigtes Europa das britische System nicht langfristig zu tolerieren in der Lage wäre, da es gegen den Politikstil "korporater Kontrolle" (Anthony Barnett) geht, den europäische Integrationisten favorisieren. Gordon Brown allerdings ist äußerst pro-Europa; sollte er jemals zum Gegner der europäischen Sache bekehrt werden, würde Großbritanniens Befürwortung der europäischen Integration sich drastisch abschwächen. Mit dem Sturz des "Sinister Minister" haben Gordon Brown, Außenminister Robin Cook und John Prescott den Abgang des Architekten der Werbekampagnen von New Labour erreicht.

Blair hat einige arbeitsreiche Jahre vor sich: Reformierung des Oberhauses (mit ihrem Widerstand gegen Anträge, das Wahlsystem zu reformieren, um mit dem Rest Europas zu harmonisieren, haben die Lords sich auf die Seite der Linken gestellt), keltischer Separatismus, Frieden in Irland, die Volksabstimmung über den Euro. Trotz ihrer Behauptung, die Verfassung nur reformieren zu wollen, hat die Regierung mit einer Reihe von Projekten einen Kurs eingeschlagen, der die Art und Weise, wie Großbritannien regiert wird, grundlegend verändern wird. Nur ihre fortbestehende Popularität kann eine erfolgreiche Durchführung garantieren. Sollte eins ihrer wichtigsten Vorhaben zerfallen, könnte das ganze Projekt New Labour von Auflösung bedroht werden. Es bleibt abzuwarten, ob der abrupte Sturz des unheimlichen Ministers lediglich eine pubertäre Wachstumsstörung von New Labour war, oder aber die erste Runde in einem neuerlichen Kampf um die Parteiseele.


 
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