© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


Vergessene Schriftsteller (II): Ernst Wiechert zwischen Widerstand und Wandlung
Verinnerlichte Glaubenskraft
Magdalena S. Gmehling

"Ein Volk, das die Dichter des Zwecklosen entthront und zu ihnen spricht: ’Geht nun sterben, unnütz seid ihr in unserer Welt!‘ kann wohl mächtiger und reicher werden, aber es hat seine Erstgeburt verkauft, und in seinem Mark ist der Totenwurm der letzten Tage." Dieses Wort des am 18. Mai 1887 in Kleinort/Ostpreußen geborenen Förstersohnes Ernst Wiechert gilt einer Welt, in der kein Raum mehr ist für die Dichter.

Der Dichter Ernst Wiechert, der von 1911 bis 1930 als Studienrat in Königsberg und Berlin wirkte und vier Jahre am ersten Weltkrieg teilnahm, lebte seit 1933 als freier Schriftsteller am Starnberger See. Kompromißlos und mannhaft trat er in mutigen Reden gegen das Terrorregime des Nationalsozialismus auf. Dies brachte ihm 1938 einen KZ Aufenthalt in Buchenwald und lange Gestapoaufsicht ein. Am 24. August 1950 starb er in Uerikon in der Schweiz.

Wiechert hinterließ ein umfangreiches Werk, das gesammelt in zehn Bänden 1957 erstmals erschien. Die Erhaltung und Herausgabe der Schriften Wiecherts besorgten seine Frau Lilje und der langjährige Freund Gerhard Kamin.

Diese eher nüchternen äußeren Fakten eines ganz auf Innerlichkeit, Zurückgezogenheit und die heilenden Kräfte einfachen Menschentums ausgerichteten Lebens spielen bei der Beurteilung des Dichters eine nicht unerhebliche Rolle. Ernst Wiechert wurde geprägt von der eingangs zitierten Welt, in deren Mark der Totenwurm klopft, und er sah dies auch für kommende Generationen voraus. Er, der das radikal Böse erfuhr, legte sein Vermächtnis in der "Missa sine Nomine" (Namenlose Messe) nieder, die er, bereits gezeichnet von schwerer Krankheit, 1950 verfaßte. Die Gestalt des Freiherrn Amadeus, der "an den Pforten der Hölle" gewesen war, trägt autobiographische Züge. "Wie kann Gott die Herrschaft des Bösen zulassen?" Diese Frage wird dem aus dem KZ entlassenen Baron zur rätselhaften Bedrängnis. Auch der Kutscher Christoph, eine Dienergestalt alten Zuschnitts, geadelt durch Treue und Seelengröße, hat auf der Flucht aus dem Osten die abgründige Bosheit der Menschen kennengelernt: "Ich fand nichts, es war alles verbrannt bis auf die Grundmauern. Und bis auf die Kirche. ... dann erschrak ich, Herr, ja, ich erschrak zu Tode, denn auf der Schwelle saß jemand. (…) Es war eine Frau gewesen. (…) Sie sagte alles. ...’Sie erschlugen die Männer und die Frauen. (…) Die Kinder haben sie ertränkt in den Jauchegruben.‘ (…) ’Ich kann nicht kommen‘, sagte sie, ’denn ich trage ein Kind. Von denen, die erschlagen haben. ... Und es soll unter dem Kreuz aufwachsen, sonst ist es verflucht.‘ (…) Sie hob ihre Hand aus dem schwarzen Tuch und deutete auf die Kirchentür. (…) ’Geh nun‘, sagte sie, ’unter diesem Kreuz wird es aufwachsen. Ein Dorf muß Kinder haben, sonst löscht Gott es aus.‘"

Es war dem Dichter nicht mehr vergönnt, seine "Missa sine Nomine" in letzter Ausformung zu gestalten. Dennoch fügen sich gerade hier alle wesentlichen Grundmotive zusammen, die das umfangreiche Werk Ernst Wiecherts mit tragischem Glanz durchziehen. Im Sinne einer Kartharsis gelingt ihm eine überzeitliche Deutung des Daseins, ein Zeugnis tiefer Menschlichkeit und geduldiger Güte. Die große Epik der "Jeromin-Kinder" (1945/47), die schöne Utopie, wie sie in "Das einfache Leben" einem romantisch gedämpften Realismus entgegentritt, das bittere Erlebnis des "Totenwaldes" (1945), das Problem von Macht und Recht, wie er es in "Der weiße Büffel" (1946) untersucht – all das wirkt wie eine Vorbereitung auf dieses Buch, in dem Wiechert dem Leser sein Weltbild nahebringt: "Über das Bild Gottes waren für sie so viele Steine gestürzt, seitdem die brennenden Dächer über sie gestürzt waren (…) Aber sie war nun da, die große Zuversicht, in einer Zeit, in der nicht einmal die Sieger Zuversicht hatten. In einer Zeit, in der die Galgen so unerschüttert standen, wie sie zwölf Jahre lang gestanden hatten, und der Stacheldraht so lächelnd um Millionen von Menschen gezogen wurde, wie die Kinder im Moor weiße Zwirnsfäden um ihre kleinen Blumenbeete zogen. Sie war da, und sie würde nicht mehr fortgehen, weil sie nicht mehr auf die Völker vertraute, oder ihre Führer, oder das Abendland, oder die Kultur, sondern auf ein paar Menschenherzen."

In bezwingenden dichterischen Bildern verweist Ernst Wiechert immer wieder auf die unerschöpflichen Kräfte der Natur und auf reine innige Menschlichkeit. Ein schwermütiger Ton durchzieht sein Werk, ein tiefes Wissen um Leid und Einsamkeit. 1932 erschien "Die Magd des Jürgen Doscocil", ein Bekenntnis zu Arbeit und Treue, 1934 ein der Heimkehrerthematik verbundener Roman, "Die Majorin", 1935 die "Hirtennovelle". Seine Märchen, die er durch die Novellen "Der silberne Wagen" (1928) und "Das heilige Jahr" (1936) vorbereitete, und die er im letzten Kriegswinter begann, als nach seinen eigenen Worten Haß und Feuer Erde und Herzen verbrannten, leitet der Dichter mit einem Vorwort ein. Hier habe er "alle Freudigkeit und alle Traurigkeit seines Lebens gesammelt, und vor allem alle Liebe. (…) Denn die Welt, wie sie im Märchen aufgerichtet ist, ist nicht die Welt der Wunder und der Zauberer, sondern die der großen und letzten Gerechtigkeit, von der die Kinder und Völker aller Zeitalter geträumt haben." So bieten diese Parabeln – sprachlich fein und distanziert, schlicht und herzergreifend – seine gesammelte Lebenserfahrung, ausgeformt in unerschöpflichen Bildern.

Ernst Wiechert ist heute "aus der Mode gekommen". Seine Schwermut, die gegenwärtig vielfach als zu emotional empfundene Sprache und der anspruchsvolle Stil werden nur noch von einer kleinen treuen Lesergemeinde geschätzt. Vergessen sind die Umstände, unter denen dieses gewaltige Werk entstand. Sicher sind Wortwahl und Satzkonstruktion nicht immer frei von pathetischen Elementen, doch wird man darin auch teilweise zeitbedingte Gebundenheiten vermuten dürfen.

Zu Unrecht wurde immer wieder versucht, Wiechert in die Nähe zur mystisch-rassischen Ideologie zu rücken. Gerade weil seine verinnerlichte Glaubenskraft aus tiefen Zweifeln stammte, fand er den Mut zu aktivem Widerstand; an die studentische Jugend richtete er einen antinationalsozialistischen Aufruf. Wiechert, der Mitleid und Verzicht predigte und immer wieder die Frage nach Gottes Gerechtigkeit stellte, verfiel der gnadenlosen Hetze und Verfolgung durch die NS-Diktatur. In den Tagen der Tyrannei schöpften viele Menschen aus den Worten Ernst Wiecherts Mut und Zuversicht.

Als einer der ersten wandte er sich 1945 an das gedemütigte deutsche Volk. In der Rede an die deutsche Jugend im Münchner Schauspielhaus vom 11. November 1945 fand er bewegende Worte: "Da stehen wir nun vor dem verlassenen Haus und sehen die ewigen Sterne über den Trümmern der Erde funkeln oder hören den Regen hinabrauschen auf die Gräber der Toten und auf das Grab eines Zeitalters. So allein, wie niemals ein Volk allein war auf dieser Erde. So gebrandmarkt, wie nie ein Volk gebrandmarkt war. Und wir lehnen die Stirnen an die zerbrochenen Mauern, und unsere Lippen flüstern die alte Menschheitsfrage: ’Was sollen wir tun?‘"

Es würde einer Zeit, deren Sprache vielfach in kalte Funktionalität oder belanglose Banalität abgeglitten ist, deren Lebenssinn sich mitunter in wirklichkeitsfremden Trugbildern erschöpft, sehr wohl anstehen, sich mit dem Werk Ernst Wiecherts kritisch auseinanderzusetzen. Hier ist einer, der seinen individuellen Weg der Bewältigung gegangen ist. Der überzeitliche Aspekte anzubieten wagt. Einer, welcher der harten Lebenswirklichkeit standgehalten hat, der geistigen Krise, der ratlosen Verwirrung.


 
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