© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


Hansjoachim Tiedge: Der Überläufer
Deckname "Waldhaus"
Christian Schmidt

Als die Erinnerungen des 1985 in die DDR übergelaufenen Kölner Verfassungsschützers Hansjoachim Tiedge in den Buchhandlungen auftauchten, wurden sie unverzüglich beschlagnahmt. Die Räume des Verlages Das Neue Berlin und sogar die Privatwohnungen der Verleger wurden durchsucht, um des Manuskripts habhaft zu werden. Dem Verlag drohte eine Strafe wegen Geheimnisverrats. Doch Zensoren haben es heutzutage nicht leicht: Jeder, der das Buch lesen wollte, konnte es in voller Länge aus dem Internet ziehen. Jetzt ist der Beschlagnahmebeschluß aufgehoben worden, das Buch ist laut Auskunft des Verlages "wieder frei lieferbar" und nimmt Kurs auf die Bestsellerlisten. Denn verbotene Früchte haben immer die Lust gereizt.

Was macht die Memoiren des Ex-Verfassungsschützers, der sich in der Nähe von Moskau versteckt hält, so gefährlich? Wohl kaum das biedere Eingangskapitel über seine Kindheit in Berlin, Hoyerswerda und in der Rhön. Sicherlich auch nicht die lobenswerte Offenheit, mit der Tiedge, Jahrgang 1937, von seiner Referendarzeit nach dem Jurastudium in Frankfurt und München erzählt: "Ich fing an Bier zu trinken, wann ich wollte, und nicht nur an Sonn- und Feiertagen." Dann aber wird es wirklich spannend. Denn sein neues Steckenpferd, das Trinken, hindert den Jungjuristen nicht daran, im September 1966 in den Dienst des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln zu treten. Dessen Innenleben und seine Strukturen breitet der "Überläufer" nun auf den folgenden 400 Seiten in allen Facetten und mit kenntnisreicher Ausführlichkeit vor dem Leser aus. Der darf mitfiebern bei großen, spektakulären Spionagefällen und lernt viele geheimnisumwitterte Leute aus nächster Nähe kennen. Tiedge berichtet aber auch vom grauen Alltag der Nachrichtendienstler, von Personalstreitigkeiten, Kompetenzgerangel, peinlichen Pannen und Finanzlöchern. Erstaunlich sind die vielen Namen und Details, an die sich der Autor noch erinnert und die für Insider wirklich brisant sein dürften. Man glaubt Tiedge aufs Wort, wenn er schreibt, daß er mit Leib und Seele in der Welt der Spionage und Gegenspionage aufgegangen ist.

Allerdings darf man für diesen Job morgens nicht allzu verkatert sein. Tiedges Schluckfreude wird noch verheerender, als seine Frau stirbt. Sogar den Führerschein muß er abgeben. Seine Kölner Stammkneipe, der "Merheimer Hof", wird ihm zum zweiten Zuhause, der Wirt sein bester Kreditgeber. Der Schuldenberg wächst dem wackeren Verfassungsschützer über den Kopf. Schließlich, bekennt Tiedge offen, habe es nur noch eine Alternative gegeben: Selbstmord oder Übertritt. Für den Selbstmord sei er "zu feige" gewesen. An einem Augusttag 1985 steigt der "versoffene Witwer" (Tiedge) deshalb am innerdeutschen Grenzübergang Marienborn aus dem Zug nach (West-) Berlin. Im Westen läßt er drei Kinder zurück. "Willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik", begrüßt ein Stasioffizier den beleibten Ankömmling aus dem Rheinland. Im stasieigenen 7er BMW rasen sie nach Prenden nördlich Berlins, in eine großzügig eingerichtete, abgeschirmte Villa mit dem Decknamen "Waldhaus". Um sich bei seinen neuen Freunden standesgemäß einzuführen, liefert Tiedge einen in der DDR lebenden Westagenten ans Messer (er wird zu lebenslänglicher Haft verurteilt und begeht später im Zuchthaus Bautzen Selbstmord). Schnell mündet die Begrüßung in ein größeres Gelage. Sein Alkoholkonsum an diesem Abend, bemerkt Tiedge nicht ohne Stolz, sei "in die Annalen des MfS eingegangen – sechzehn Halbliterflaschen Bier und eineinhalb Flaschen Wodka". Neigt der Mann zu Übertreibungen? Möchte er den neugierigen Lesern im Westen vermitteln, wie gut und sorglos es sich für ihn im Osten leben ließ? Beschenkte ihn die DDR wirklich so fürstlich? 294 Quadratmeter groß, behauptet er, sei die luxuriöse Wohnung mit Kamin, Sauna und beheizter Garage in Berlin-Köpenick gewesen, mit der sich die Stasi 1987 bei Tiedge, der sich jetzt "Prof. Dr. Helmut Jochen Fischer" nannte, für seine Mitarbeit bedankte. "Von allen Einbaugeräten und Armaturen strahlten die Embleme bundesdeutscher Nobelfirmen." Zu seinen Nachbarn durfte er jetzt DDR-Größen wie den Außenhandelsminister Gerhard Beil, den Conferencier Heinz Quermann und den TV-Quizmaster Hans-Joachim Wolfram zählen. Das angenehme Leben nahm mit der Wende ein jähes Ende. Nach seiner Enttarnung im Frühjahr 1990 flüchtete Tiedge mit seiner neuen Frau Britta in einer russischen Militärmaschine nach Moskau. "In einer hübschen Stadt in der Nähe der Metropole" bewohnt der Frührentner eine "schöne Vier-Zimmer-Wohnung". Mit großem Interesse, bekennt Tiedge, verfolgt er via Satellitenfernsehen die Ereignisse in Deutschland. Was ihm besonders wehgetan hat: Daß der 1. FC Köln aus der ersten Bundesliga absteigen mußte.

 

Hansjoachim Tiedge: Der Überläufer. Eine Lebensbeichte. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1998, 478 Seiten, 38 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen