© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/99 12. März 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Religionsstifter
Karl Heinzen

Reinhart Koselleck ist im Jahr 1923 als Tatzeuge geboren worden. Sein Vorname ist nur durch den Endkonsonanten von jenem geschieden, den der Beauftragte für die "Endlösung der Judenfrage" trug. Über die Beschäftigung mit dieser wiederum ist der einstige Kenner der Aufklärung verrückt geworden. Er könnte als ein spätes, psychisches Opfer des Nationalsozialismus durchgehen. Reinhart Koselleck kennt das, worauf die Bundesrepublik Deutschland gründet, also von beiden Seiten. Dies prädestiniert ihn in den Augen der Frankfurter Allgemeinen dafür, das Gehör des Deutschen Bundestages zu finden, wo es darum geht, ein vergängliches Mahnmal gegen dauerhafte Schuld aufzurichten. "Seine Stellungnahme durchbricht die festen Bahnen" der Diskussion, ist kurzweilig und verheißt eine solide Legitimationsbasis für die unabwendbaren Nachbesserungen des Gedenketats. Die Kultur darf schließlich nicht den Bürokraten überlassen werden.

In der "FAZ" übt Koselleck Zurückhaltung: Die wissenschaftliche Überlegenheit seines Zugriffs auf den politischen Totenkult mißbraucht er nicht dazu, diesen historisch oder soziologisch zu relativieren. Statt dessen bemüht er sich, seinem Volke verständlich zu bleiben, indem er die Sprache der Täter spricht: "Es gibt viele und treffende Argumente, die die Morde an den Juden als herausragend, als einmalig und zu Recht als einzigartig betonen". Das sind Worte, die wie für Philipp Jenninger formuliert klingen. Reinhart Koselleck riskiert sie, weil er Schaden von unserem Gemeinwesen abwenden will: Nach Artikel 3 des Grundgesetzes gibt es kein "Kriterium, das die Gleichkeit vor dem Gesetz durchbrechen darf". Das nun in Berlin angestrebte Mahnmal würde sich jedoch eine solche Diskriminierung leisten. Hat der Bund nun zu befürchten, daß sich andere Opfergruppen in das zentrale Gedenken einklagen? Koselleck läßt diese Möglichkeit offen, empfiehlt aber, ihr präventiv zu begegnen, indem man in der Abkehr von der bisherigen Konzeption ein "Mahnmal", das an "die Täter und ihre Taten erinnern soll", errichtet. Wie ein solches aussehen könnte, erörtert er nicht – vielleicht hat er ja ein Hakenkreuz in der Größe eines Fußballfeldes als Gestaltungsalternative vor Augen. Möglicherweise ist die Argumentation von Reinhart Koselleck aber gar nicht an ihr Ende gekommen: Auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage diskriminieren wir in unserem Gedenken eigentlich zwischen Tätern und Opfern? Was ermächtigt uns ferner, von all den Menschen abzusehen, die jemals sterben mußten, obwohl sie nicht vom Nationalsozialismus gemordet wurden? Sind uns diejenigen, die noch von uns gehen werden, wirklich ferner als diejenigen, die schon gegangen sind? Dürfen wir über den Toten von gestern, heute und morgen die Lebenden geringschätzen? Auf diesem Weg könnte uns Reinhart Koselleck, von Grundgesetz und Nationalsozialismus ausgehend, einen neuen Zugang zum Göttlichen erschließen. Er hat das Zeug zum Religionsstifter.


 
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