© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/99 12. März 1999


Vertriebene: BdV-Präsidentin Erika Steinbach über Minderheitenrechte für Deutsche
"Die Schutzpflicht aufgekündigt"
Thorsten Thaler

Frau Steinbach, Bundeskanzler Schröder hat nach einem Treffen mit dem tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman am Montag in Bonn die Vermögensansprüche der Vertriebenen als "erledigt" bezeichnet. Wie bewerten Sie diese Verzichtserklärung?

Steinbach: Mit der Erklärung des Bundeskanzlers hat die Bundesregierung ihre Schutz- und Obhutspflicht gegenüber den Vertriebenen aufgekündigt. Damit ist klar, daß die Regierung die Rechte der Vertriebenen auf Wiedergutmachung nicht mehr geltend machen wird. Der schnelle einseitige Verzicht auf die Durchsetzung der Rechte der Heimatvertriebenen zeigt, daß jedes Bemühen um einen Interessenausgleich unterblieben ist.

Werden Sie jetzt die Bundesregierung verklagen?

Steinbach: Ohne den diplomatischen Rechtsschutz der Bundesregierung verbleibt den Vertriebenen nur noch der Rechtsweg. Die Betroffenen werden jetzt rechtliche Schritte zur Durchsetzung ihrer Entschädigungsansprüche einerseits gegen die Vertreiberstaaten und andererseits auch gegen die Bundesrepublik Deutschland erwägen müssen.

Bereits vor der Bundestagswahl wurden Stimmen laut, daß sich das Verhältnis der Vertriebenenverbände zur Regierung unter Rot-Grün verschlechtern könnte. Wie beurteilen Sie heute die Beziehungen?

Steinbach: Die Befürchtungen des Bundes der Vertriebenen hatten einen ganz konkreten Hintergrund, nämlich die Beobachtung, daß wir in den vergangenen Jahren feststellen konnten, daß überall dort, wo Rot-Grün die Landesregierung stellt, die Mittel für die Vertriebenen massiv beschnitten bzw. völlig gestrichen wurden. Aufgrund dieser Erfahrung haben wir sehr sorgfältig beobachtet, was kommt, und haben jetzt feststellen können, daß die neue Bundesregierung offensichtlich diesen Fehler nicht wiederholen möchte. Der Innenminister, der für den Bund der Vertriebenen zuständig ist, sagte mir in einem persönlichen Gespräch, daß es in der Vergangenheit in dieser Frage Fehler gegeben habe und daß er für die Zukunft ein konstruktives und vertrauensvolles Verhältnis mit dem Bund der Vertriebenen möchte. Entsprechende Signale kamen auch von anderer Seite. So war es für uns schon eine große Überraschung, daß der Bundeskanzler unsere Einladung angenommen hat, am 29. Mai im Berliner Dom die Festrede zu halten anläßlich der Feierstunde des Bundes der Vertriebenen im Zusammenhang mit den 50-Jahr-Feiern zum Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.

Haben Sie denn überhaupt Abstriche an der finanziellen Förderung hinnehmen müssen oder befürchten Sie diese noch?

Steinbach: Der Entwurf des Haushaltsplanes sah zunächst überhaupt keine Kürzungen vor, aber in dem Bereich, der jetzt in den Händen des Staatsministers für Kultur Naumann liegt, sind durch Umschichtungen durch die rot-grüne Regierungsfraktion am Ende 2,3 Millionen Mark von insgesamt etwa 28,5 Millionen Mark gestrichen worden.

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Steinbach: Es kommt darauf an, an welcher Stelle das am Ende eingespart werden soll. Wenn man sieht, was die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Deutsche Welle an Millionensummen zurückstecken mußten, dann kann man sehen, daß die Streichungen im Rahmen der schwierigen Haushaltssituation erfolgt sind und nicht unter der Geisteshaltung, die Vertriebenenverbände zu schlachten. Wobei Kürzungen niemals erfreulich sind und uns schwer zu schaffen machen werden.

Wo sehen Sie künftig die Hauptschwerpunkte Ihrer Tätigkeit?

Steinbach: Bereits seit 1990 haben wir einen neuen Schwerpunkt, nämlich die Frage der europäischen Osterweiterung. Die Kriterien, die 1993 in Kopenhagen von den Mitgliedstaaten der jetzigen Europäischen Union für die Beitrittskandidaten festgelegt worden sind, beinhalten ja unter anderem auch Menschenrechte und Minderheitenrechte. Hier sehen wir auch das Erfordernis, daß neue Mitgliedstaaten auf jeden Fall das Vertreibungsunrecht aufarbeiten müssen und wirklich konstruktive Minderheitenrechte in ihren Staaten schaffen müssen, um überhaupt beitrittsfähig zu sein.

Wobei da einiges im Argen liegt. Es hat weder in der Tschechei noch in Polen ein klares Bekenntnis zu dem Vertreibungsunrecht gegeben.

Steinbach: Das ist aber eine Voraussetzung für den Beitritt, daß ein Staat dieses Geschehen aufarbeitet. Und es gibt positive Beispiele, daß es möglich ist. Ungarn hat schon 1992 ein Entschädigungsgesetz verabschiedet, daß die Deutsch-Ungarn, die vertrieben wurden, genauso entschädigt wurden wie die Ungarn, die im Lande enteignet worden sind. Das ist zwar keine Entschädigung eins zu eins, aber Ungarn ist kein wohlhabendes Land. Es hat das getan, was in seinen Möglichkeiten stand, und hat darüber hinaus ein sehr gutes Minderheitenrecht geschaffen. Inzwischen hat, vor einiger Zeit schon, Estland die Deutschen eingeladen zurückzukehren. Und Estland hat die Rückgabe von entzogenem Eigentum inzwischen in Teilen auch vollzogen. Es kehren zwar nicht viele Menschen zurück, aber diejenigen, die zurückgekehrt sind, haben ihr Eigentum zurückerhalten. Auch Rumänien hat vor einem Jahr erklärt, sich über jeden Deutschen zu freuen, der zurückkehrt.

Aber es gibt auch die Gegenbeispiele Polen und die Tschechei.

Steinbach: Da haben Sie völlig recht. Das sind auch die hartnäckigsten Verweigerer in dieser Frage und diejenigen Staaten, die sich am wenigsten konstruktiv mit dieser Materie auseinandersetzen. Sie weisen die Schuld von sich, indem sie darauf verweisen, daß sie ja nicht Initiator gwesen seien, wobei das natürlich nicht richtig ist.Die Initiative ging schon vor Kriegsende von Benesch aus, daß man sich der Deutschen entledigen müsse, so bald wie möglich und so gründlich wie möglich. Auch Polen hat aus eigenem Antrieb Deutsche vertrieben. Dennoch gibt es in beiden Ländern im intellektuellen Bereich und in den Medien vermehrt Diskussionen darüber, daß man die Frage der Vertreibung der Deutschen aufarbeiten muß. Da hat sich die Zeit fortentwickelt. Aber es ist noch eine lange Wegstrecke zurückzulegen.

Welches Gewicht können die Vertriebenen in die Waagschale legen?

Steinbach: Wir äußern uns öffentlich, aber weder die alte noch die neue Bundesregierung haben speziell zu den Fragen der Osterweiterung jemals die Vertriebenen gehört. Trotzdem werden wir uns Gehör verschaffen und deutlich darauf hinweisen, daß sowohl in Polen als auch in der tschechischen Republik massive Defizite bei den Menschenrechten und Minderheitenrechten vorhanden sind und daß sie damit auch die Beitrittsreife nicht haben. Ich füge aber auch hinzu, wir als Vertriebene wünschen uns schon, daß diese Staaten Mitglieder werden, doch die Kriterien müssen erfüllt sein.

Welche unabdingbaren Voraussetzungen sehen Sie noch für den EU-Beitritt?

Steinbach: Entschädigung für die Enteignungen und Heimatrechte. Das Heimatrecht ist nicht nur Niederlassungsrecht, sondern Zurückkehren in die Heimat, aus der man vertrieben worden ist. Das entspricht der Formulierung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vor einem Jahr, wonach jeder Mensch, der vertrieben wurde, das Recht hat, in seine Heimat und in sein Eigentum zurückzukehren.

Nach den Erfahrungen mit der deutsch-tschechischen Erklärung ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß die Bedingungen erfüllt werden.

Steinbach: Wo man sich am Ende trifft, ist eine zweite Frage. Aber daß sich diese Staaten so vollständig dieser Thematik verweigern, macht deutlich, daß ihre Europareife noch nicht gegeben ist. Wenn man überhaupt nicht bereit ist, darüber zu sprechen, dann zeigt man, daß noch keine Bewußtseinsänderung eingetreten ist, und wenn Sie sehen, daß in der tschechischen Republik nach neuesten Umfragen 80 Prozent der Bevölkerung glauben, daß es richtig gewesen sei, die Deutschen zu vertreiben, dann zeigt es auch, mit welcher Emotionalität dieses Thema behandelt wird. Das paßt nicht in eine Europäische Union, die ja nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch eine Wertegemeinschaft ist, in der insbesondere Menschenrechte und Minderheitenrechte einen hohen Stellenwert haben. Das darf nicht zerschlagen werden durch neue Beitrittskandidaten, die mit diesen ethnischen Fragen noch Probleme haben.

Wie sehen Ihre Perspektiven in der praktischen Pflege des deutschen Kulturgutes der ehemaligen Ostgebiete aus?

Steinbach: Das geschieht auf der einen Seite auch mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung zum Beispiel bei der Erhaltung kulturell wertvoller Gebäude wie Kirchen oder Denkmälern. Aber es geschieht auch unendlich vieles nur durch Initiative der deutschen Vertriebenen. Man kann feststellen, daß das Zusammenwirken von Menschen sehr viel besser funktioniert als das an der Spitze zwischen den Politikern der Fall ist.

Welches politische Ziel, welche Vision haben Sie für den Bund der Vertriebenen?

Steinbach: Daß diejenigen, die es möchten, in ihre Heimat zurückkehren können und dort nicht mit geballten Fäusten aufgenommen werden, sondern mit offenem Herzen und daß sich das Verhältnis zu unseren Nachbar- und Vertreiberstaaten Schritt um Schritt so normalisiert, auch mental, daß es insbesondere in Polen und der Tschechischen Republik nicht mehr zu solchen Tönen kommt wie im vergangenen Sommer, die völlig unangemessen waren und davon zeugten, daß man sich seiner Verantwortung in dieser Frage noch überhaupt nicht bewußt geworden ist.

 

Erika Steinbach geboren 1943 im westpreußischen Rahmel, ist Bundestagsabgeordnete der CDU und seit Mai 1998 Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). Von 1970 bis 1990 arbeitete sie als Diplom-Verwaltungswirtin und Informatikerin beim Kommunalen Gebietsrechenzentrum Frankfurt, seit 1974 als Projektleiterin für die Automatisierung der Bibliotheken in Hessen. Seit 1977 Stadtverordnete in Frankfurt, wurde Erika Steinbach 1990 erstmals in den Bundestag gewählt.


 
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