© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/99 12. März 1999


Reiner Kunze: Der Lyrikband "Ein tag auf dieser erde"
Von einer tiefen Lebensfreude
Doris Neujahr

Wir schlafen, die wange am fluß, / an der unbeirrbarkeit des wassers. / Doch immer öfter liegen wir wach, / um halt zu finden an der stille. / Abseits der wörter, / von den wühltischen der sprache. / Vor dem haus, in der astgabel der eibe, / brütete die amsel unhörbar gesang aus. / Und die glocke von Pyrawang jenseits des stroms, / bucht ab von der zeit."

Schon im Eingangsgedicht "In Erlau, wortfühlig" hat der Schriftsteller Reiner Kunze die wesentlichen Motive seines neuen Lyrikbandes angeschlagen: Die Neuentdeckung der Natur, das spannungsreiche Verhältnis von Distanz und Nähe zum aufgeregt-banalen Alltag, die Ahnung der eigenen Endlichkeit. Und das Aufbäumen gegen Resig-nation. Schimmerte früher aus den Gedichten des jetzt 65jährigen verhaltene Bitterkeit durch, ist heute heitere Gelassenheit spürbar. Es ist zusätzlich reizvoll, sie auch als Gegenentwurf zur späteren Lyrik Heiner Müllers lesen, der in der Gegenwart keinen Ideenvorrat mehr vorfand und dem eben dazu nichts mehr einfiel: "Das letzte Programm ist die Erfindung des Schweigens". Kunzes Gedichte sind Versuche, dieses Verstummen zu überwinden.

Der wichtigste Grund der ungewohnten Leichtigkeit sind wohl die Umbrüche von 1989/90. In den siebziger Jahren hatte Kunze mit den "Wunderbaren Jahren" (1976), diesen scharf gestochenen Prosa-Miniaturen über die DDR, die denkbar schärfste Absage an den "realexistierenden Sozialismus" formuliert, die bei der SED-Führung einen Veitstanz auslöste und ihm auch von vermeintlich fortschrittlichen Kräften im Westen übelgenommen wurde – bis heute übrigens. Die erlittenen Verwundungen sind noch da, außerdem ist Kunze einer, der sich selbst am wenigsten schont und selbstkritisch zurückblickt: "Unsere trauer? / Daß wir hatten sein können, / wie wir einmal waren –". Doch so wichtig das alles ist, es steht nicht mehr im Zentrum. "Die zeit ist schon zu kurz, den mut zu verlieren".

Die neuen Gedichte handeln von süddeutschen Landschaften und Städten, von Orten in Osteuropa, in Asien und Afrika, von Konzerten, Abschieden und, in all dem, von einer tiefen Lebensfreude. Kunze weiß (und schreibt), daß es wieder die ewigen Opportunisten sind, die in der postsozialistischen Ära an den Schaltstellen von Macht und Wohlstand stehen, und nicht diejenigen, die den Diktaturen widerstanden haben. Trotzdem sieht er letztere als die eigentlichen Gewinner. "Für die existenz der poesie / die existenz riskieren", heißt es im Gedicht "Dichterverleger" über ein Leben in der Wahrheit unter der Diktatur, das dem Posener Lyriker und Celan-Übersetzer Ryszard Krynicki gilt. Und wenn er dem Leipziger Publizisten Horst Drescher die Verse widmet: "Und sonst: poesie ist außer wahrheit, / vor allem poesie", dann leuchtet in der Differenz zwischen den Erfahrungshorizonten beider Gedichte der ganze reale Zugewinn an politischer, persönlicher und geistiger Freiheit nach 1989 auf.

Dem tschechischen Lyriker Jan Skacel (1922 – 1989), dem er bereits im Gedichtband "Sensible Wege" (1969) gehuldigt hatte, ruft er, Hölderlin-Verse gegen den Strich bürstend, in seinem Grabspruch nach: "Woher aber nimmst du / den schatten dort?" Die Frage richtet er auch an die Lebenden, voller Sorge, sie könnten sich künftig, im Vollgefühl der Leichtigkeit des Seins, mit einer Literatur von den erwähnten "Wühltischen der Sprache" begnügen, die jeden Gedanken an Untiefen und Gefährdung der menschlichen Existenz verdrängt. Nichts hat Kunze von seiner scharfsinnigen Dialektik eingebüßt oder zurückgenommen. "So viele antworten gibt’s, / doch wir wissen nicht zu fragen". In Bonmots wie diesem fällt anhaltende Lust an der Erkenntnis mit gleichzeitiger Erkenntnisskepsis zusammen, die aus Lebenserfahrung und biographischen Brüchen herrührt.

"Der baum, ein schräges segel, / wirft den schatten sich / als boot". Das ist fein beobachtet und greift zugleich die Eröffnungsverse der "Buckower Elegien" auf, in denen Brecht die Bewegung als Möglichkeit andeutete, um ihre Abwesenheit in der gesellschaftlichen Realität zu beklagen. Für Kunze ist die Realität selber zu einem Gewebe aus Metaphern geworden, die sich überdies nur als Schatten mitteilen und sich der Begrifflichkeit großangelegter Kausalerklärungen und Fortschrittsutopien á la Brecht entziehen. Diese dreifache Bescheidenheit macht ihn frei, die Erscheinungen der Welt erneut in ihrer Vielfarbigkeit wahrzunehmen: "Nur daß du hängst am schönen / und weißt, du mußt / davon". So erfüllt sich in Kunzes Lyrik der als Motto gewählte Satz von Camus: "Ein Geborenwerden und ein Sterben und dazwischen die Schönheit und die Schwermut."

Kunze vermag seine Gedanken prägnant zu verknappen und zugleich vielfarbig funkeln zu lassen. Natur ist ihm Metapher und Erfahrungsraum, in dem Menschlich-Allzumenschliches aufgehoben und transzendiert wird: "Unterm dach, fast/ haut an haut mit dem himmel. / Das universum/ dringt durch die poren".

Es gibt Schlüsselwörter, die immer wieder auftauchen und die Gedichte miteinander verknüpfen: "Als bete der bach in den wiesen / so viele buchten hat er ausgekniet". So bietet die Natur ein Lehrstück für die moralische Bewährung in der Gegenwart, denn: "Die menschen meiden die stille. / Sie könnten in sich sonst, /die schuld knien hören". In einem dritten Gedicht signalisiert eine vorbeihuschende Bachforelle, daß diese Bewährung die Chance auf existentielle Erfüllung eröffnet: "Du möchtest niederknien, /die unwiederbringlich verlorene nadel zu suchen". Schönheit und Schwermut, wie gesagt, erfüllen Kunzes Gedichte. Und eine bisher nicht gekannte Sinnlichkeit. "Auf der weichselpromenade / das glockenspiel der kurzen röcke" – spätestens in diesern Versen wird aus der Kunzetypischen Sprödigkeit Musik. Eine Musik, die der Dichter durch das Brechen von Zeilen und Rhythmen immer wieder dissoniert, als fürchte er falsche Harmonien.

Der von der deutschen Gegenwartsliteratur geforderte, bisweilen auch mit Aplomp behauptete Bruch in der künstlerischen Wahrnehmung hat sich in Kunzes Gedichten gleichsam beiläufig vollzogen und ein neues Staunen über die Wunder ermöglicht, die im Alltag präsent sind. Für den Leser, übrigens, gehören zu diesen Wundern auch einige der neuen Gedichte Reiner Kunzes.

 

Reiner Kunze: Ein tag auf dieser erde, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, 111 Seiten, 29,80 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen