© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Sprachenschutz: Widerwillig setzt Paris ein Abkommen über den Schutz von Regionalsprachen durch / Angst vor Deutsch als Hochsprache
Die ungeliebten Kinder der französischen Nation
Jean-Jacques Mourreau

Entrüstung und Toben bei den Jakobinern der Rechten wie der Linken. Der Grund: nach seiner hartnäckigen Weigerung schickt Frankreich sich nun an, die europäische Minderheiten- und Regionalsprachencharta zu ratifizieren. Viel Lärm um nichts. Diese Unterzeichnung wird in Wirklichkeit an subtile Einschränkungen gebunden sein, die die berühmte "französische Ausnahmeregelung" sicherstellen.

"Es ist der Staat, der die Nation macht, und nicht die Nation, die den Staat macht", sagt Jean-Pierre Chevènement, Fürsprecher republikanischer Werte und derzeitiger französischer Innenminister, gern. Dieser Refrain ist zum Dogma sämtlicher demokratischen Eiferer geworden, des doppelköpfigen Front National ebenso wie in den Freimaurerlogen der Action Française. Das Dogma ist das der "Beschränkung auf das Einheitliche" und wird folgendermaßen durchdekliniert: "ein Staat, ein Volk, eine Sprache". Dabei spielt es keine Rolle, ob die geschichtliche Realität sich mit einer solchen Symmetrie greifen läßt.

Franzosen stammen nicht von Asterix und Obelix ab

Daß das für die Entstehungsgeschichte des französischen Staats nicht der Fall ist, liegt auf der Hand. Nicht alle Franzosen sind Nachfahren von Asterix und Obelix, auch wenn jahrzehntelang, in der Normandie wie auf den Antillen, die republikanische Schule sie zu wiederholen lehrte: "Unsere Vorfahren, die Gallier." Die französische Monarchie hat mit den Galliern nichts zu tun, sehr viel aber mit den fränkischen Fürsten. Doch sollte man sich hüten, einem Franzosen zu sagen, daß sogar der Name seines Landes von dem Volk der Franken stammt oder daß Chlodwig, den er nur unter dem Namen Clovis kennen wird, ein Sohn Germaniens war. Noch mehr würde es ihn überraschen, daß die französische Sprache, deren "romanischen" Charakter er zu betonen liebt, eine Vielzahl germanischstämmiger Begriffe umfaßt. Er weiß nicht – oder will nicht wissen –daß ganz gewöhnliche Wörter wie "blanc" (weiß), "orgueil" (Stolz) oder "équipage" (Mannschaft, Besatzung) nicht aus dem Lateinischen, sondern aus dem Germanischen kommen. Der fränkische Einfluß ist für den Norden Frankreichs bestimmend. Der Einfluß der Burgunder geht genaugenommen über die Bourgogne hinaus. Skandinavische Völker haben ihre Spuren in der Normandie hinterlassen. Und es ist falsch, zu behaupten, von den Westgoten im Südwesten des Landes sei nichts zurückgeblieben. Es ist bloß der offiziellen Geschichtsschreibung zum Opfer gefallen, und der Franzose ahnt nichts mehr davon.

Auf dem Gebiet des Sechsecks, das die "nationale" Doktrin als die Frucht ein und desselben geschichtlichen Schicksals darstellt, leben verschiedene Völker, die alle eine eigene Geschichte, Kultur und Sprache haben, unter dem Etikett "französische Bürger" zusammen, das ihnen willkürlich eine gemeinsame "Nationalität" verleiht: Basken, Bretonen, Flamen, Katalanen, Korsen, Savoyer, Elsässer, Lothringer. Napoleon erblickte das Licht der Welt auf Korsika, das sich, gerade aus der Abhängigkeit von Genua entlassen, im Aufstand gegen die französische Besatzung befand. Nizza, wo Garibaldi geboren wurde, und Savoyen, die Heimat Joseph de Maistres, gehören erst seit 1860 zu Frankreich.

Die sprachliche Einheit der Franzosen ist eine Legende

Und die linguistische Einheit? Sie wurde mit großer Verspätung erreicht, und zwar dank der Schul- und Wehrpflicht. Der Großteil der Bretonen, die 1870 mobil gemacht wurden, verstanden kein Französisch. Infolgedessen riefen sie an der Front "d’ar gêr", was soviel heißt wie "Auf nach Hause!", und ihre Offiziere priesen ihre Tapferkeit in der Überzeugung, daß sie "à la guerre" ("Auf in den Krieg!") gebrüllt hätten. Bei dem Gerichtsverfahren gegen Gaston Dominici in den fünfziger Jahren verstand der Angeklagte wenig oder gar kein Französisch. Der Publizist Jean Giono wies sicherlich als einziger auf diese Tatsache hin.

Noch heute verständigen sich Tausende von Menschen in Frankreich tagtäglich in ihrer Sprache, die nicht die französische ist. Das Okzitanische, eine romanische Sprache, die sich vom Französischen unterscheidet und in Südfrankreich gesprochen wird, existiert, den Bemühungen von Menschen wie Frédéric Mistral zum Trotz, fast nur noch als Dialekt. Das Flämische überlebt unter großen Schwierigkeiten in der linguistischen Enklave Westhoeck. Andererseits wird Euskara, die älteste europäische Sprache, weiterhin unter den französischen Basken gesprochen. In Perpignan ist das Katalanische genauso lebendig wie in Barcelona. Ähnlich ergeht es dem Korsischen, das Puristen zufolge im Norden der Insel eine mundartliche Variante des Toskanischen, im Süden eine dem Sardischen verwandte Sprache ist. Die Bretonen sprechen und singen bretonisch, vor allem im Westteil der Bretagne. (In der Bretagne verzeichneten die Schulen, die Bretonischunterricht anboten, eine jährliche Zuwachsrate von etwa 20 Prozent. Innerhalb von fünf Jahren war die Nachfrage so groß, daß sie aus Lehrermangel nicht befriedigt werden konnte.)

Die Elsässer und Lothringer verwenden germanische, alemannische oder fränkische Mundarten. Für sie ist Deutsch noch nicht zur Fremdsprache geworden. Sie können den deutschen Sendungen des luxemburgischen, deutschen und Schweizer Fernsehens folgen. Zur Wahlzeit halten die Kandidaten ihre Reden in französischer und deutscher Sprache. Die Regionalsprachen sind Zeichen eines lebendigen Überrestes an Identität, der der von der Pariser Regierung geförderten kulturellen Angleichung trotzt.

Aufgrund ihrer Wurzeln in der jakobinischen Ideologie verabscheut die "eine und unteilbare" französische Republik sämtliche Partikularismen. Unter der Herrschaft der Revolution brach ein regelrechter Kulturkrieg gegen diese aus. Sie galten als Brutstätten des Aberglaubens, der Konterrevolution, fremder Interessen, kurz gesagt: des Feindes. Auch später wurden sie mit Mißtrauen betrachtet, als Keimzellen des die "nationale Einheit" gefährdenden Separatismus. Dieser Standpunkt hat sich bis heute fortgesetzt. Es kommt nicht selten vor, daß die bloße Ankündigung eines regionalistischen Programms als Separatismus bezeichnet wird, insbesondere wenn dies im Elsaß, der Bretagne, Korsika, Flandern, dem Baskenland oder in Savoyen geschieht. Als es vor kurzem darum ging, die Existenz des "korsischen Volkes" anzuerknnen, widersetzte sich der Verfassungsrat mit der Begründung, eine solche Anerkennung sei verfassungswidrig.

Der Schutz der Regionalsprachen wird akut

Parallel zu dem Wiedererstarken regionalistischer und dezentralistischer Forderungen stellt sich seit langem die Frage nach den Regionalsprachen. Im Jahr 1870 überreichten drei hochrangige Persönlichkeiten – der Graf von Charency, allgemeiner Berater l’Ornes, H. Gaidoz, Chefredakteur der Revue Celtique, und Professor Charles de Gaulle, ein Großonkel des Generals – der gesetzgebenden Versammlung eine Petition zugunsten des Unterrichtens von "Provinzialsprachen": "Können wir nicht verlangen, daß die Sprachen der Dichtung und Konversation die Zeiten überdauern, daß sie, gemeinsam mit dem Französischen, die Sprache der Grundschule bilden? Ist es nicht ein enormer Vorteil für ein Volk, zwei Sprachen zu beherrschen? ‘Der Mensch, der zwei Sprachen hat, ist soviel wert wie zwei Menschen’, sagte Charles Quint, und dieser Satz trifft auf ein Volk nicht weniger zu als auf ein Individuum ... Diese Frage ist eine schwerwiegende. Sie betrifft die Interessen von mehr als einem Drittel aller Franzosen."

In ihrem Glauben an die historische Vormachtstellung des Französischen, der Sprache der Aufklärung und der Vernunft, hat die Regierung solchen Forderungen nie Gehör geschenkt. Dasselbe geschah im Elsaß und in Lothringen, nach 1918 wie nach 1945. Zwar ließ das Deixonne-Gesetz von 1951 Regionalsprachen als wahlfreie Unterrichtsfächer zu, die auch als Prüfungsfächer beim Baccalauréat (französisches Abitur) gewählt werden konnten. Allerdings enthielt das Gesetz keine Bestimmungen zur Durchführung dieses Unterrichts und hatte lange Zeit lediglich theoretischen Charakter.

In den Augen seiner Regierenden ist Frankreich untrennbar dem Dogma der linguistischen Einheit verpflichtet. Artikel 2 der französischen Verfassung, erlassen nach dem Vorschlag des Mitglieds der Republikanischen Versammlung Jacques Toubon, bestimmt, daß "die Sprache der Republik Französisch ist". Die Anerkennung von Regional- und Minderheitensprachen verstößt daher gegen eine offizielle Denkweise. Zu einem Zeitpunkt, der von einer regelrechten nationalen Identitätskrise gekennzeichnet ist, ruft eine solche Absicht seitens der Regierung eine merkwürdige Unruhe bei den "Europhoben" hervor, die sich dazu hinreißen lassen, eine Art jakobinische Front zu bilden, an der Jean-Marie Le Pen, Philippe de Villiers, Philippe de Saint-Robert, Marie-France Garaud und Charles Pasqua ebenso zu finden sind wie Jean-Pierre Chevènement und die Anhänger des linken Republikanismus. Die rechten Exponenten dieses Jakobismus äußern sich freimütig in den Kolumnen der Monatsschrift La Une. Der Tenor ihrer Schmähungen ist nicht selten eine wiederkehrende Germanophobie.

Wie die Vormacht des Französischen gesichert wird

Die Ratifizierung der europäischen Regional- und Minderheitensprachen-charta fällt der Regierung Lionel Jospins also nicht leicht. Jospin hat drei Sachverständige mit der Entscheidungsfindung betraut. Nicole Péry und Bernard Poignant, die beauftragt waren, die kulturellen Aspekte zu untersuchen, haben Berichte abgeliefert, die die Ratifizierung befürworten. Die Lektüre dieser Prosa läßt allerdings Zweifel über ihre Gesinnung aufkommen. So erklärt Bernard Poignant, der Bürgermeister von Quimper, ohne Umschweife: "Seine Untätigkeit auf diesem Gebiet wird Frankreich in eine schwierige, ja heikle Lage bringen. Es täte gut daran, sich der Bewegung anzuschließen ..."

Weiter befleißigt er sich, das alte Credo der III. Republik herunterzubeten und in die Lobeshymne auf das Französische, die "Sprache der Freiheit" einzustimmen. Er weist es von sich, irgendeine andere Sprache als "Amtssprache" auf dem Gebiet der Republik in Betracht zu ziehen. Als vorbildlicher Linker verweigert er sich der Vorstellung, daß den Regionen die Macht verliehen werden könnte, diese Fragen zu entscheiden, mit folgendem Argument: "Es würde nichts bringen, aus Frankreich ein Abbild Deutschlands, Italiens, Spaniens oder Großbritanniens machen zu wollen." Kurz gesagt, er plädiert im Namen des politischen Realismus für eine minimale Ratifizierung.

Es bleibt die Frage der Vereinbarkeit des Vertragstextes mit der französischen Verfassung, in der der Staatsrat am 24. September 1996 negativ entschied. Diesen schwierigen Auftrag hat der Juraprofessor Guy Carcassone mit Bravour ausgeführt. Sein Bericht, der im vergangenen Oktober veröffentlicht wurde, gibt sich als Stellungnahme zugunsten der Ratifizierung aus, während verschiedene Empfehlungen zu Einzelpunkten den Weg zu einer eingeschränkten Unterzeichnung weisen. Diese Einschränkungen, die im polemischen Chaos untergehen, sind eine Betrachtung wert.

Zum einen geht es um den Begriff der "Minderheit", wie ihn viele europäische Staaten anerkennen. In diesem Punkt bleibt Guy Carcassone dem jakobinischen Dogma des Individualismus treu. Seiner Meinung nach sollte Frankreich den Kulturgemeinschaften auch weiterhin keine Beachtung schenken und "Minderheiten" folgerichtig nicht anerkennen. In einem Interview, das die Tageszeitung Libération am 13. Oktober 1998 veröffentlichte, erklärt er in aller Klarheit: "Zu den Verfassungsgrundlagen gehört, daß das Volk eins ist. Demnach gibt es keine Minderheit. Ich rate der Regierung, eine Interpretation der Charta aufzusetzen, die besagt, daß in den Augen Frankreichs der Begriff ‘Gruppe’ eine Anzahl von Individuen bezeichnet, und nicht eine autonome Einheit, der Rechte zustehen." Anders gesagt, steht für ihn die Anerkennung der Existenz des korsischen, bretonischen, elsässischen oder flämischen Volkes nicht zur Diskussion...

Das Deutsche wird zum Dialekt reduziert

Zum anderen, und das ist besonders bedenklich, verordnet Professor Carcassone der französischen Regierung, einfach "jede Sprache, die von einer signifikanten Anzahl Franzosen gesprochen wird, als Minderheitensprache zu betrachten, solange es sich dabei nicht um eine Amtssprache eines anderen Staates handelt".

Eine geschickte Dialektik, die die Vormachtstellung der französischen Sprache sicherstellt und gleichzeitig die Ratifizierung der Charta teilweise ihrer Inhalte entleert, aber zuläßt, daß die Sprache der Berber zu den "Sprachen Frankreichs" gerechnet wird, wie Guy Carcassone vorschlägt. So wird verständlich, warum der amtliche Schriftverkehr in deutschsprachigen Teilen des Elsaß und Lothringens sich des "elsässisch-moselanischen Dialekts" bedient. Die Erfindung dieses der Sprachwissenschaft unbekannten Dialekts macht es möglich, die deutsche Sprache, die als "ausländische Sprache" oder gar als "Feindessprache" gilt, von der Bildfläche verschwinden zu lassen und heimtückisch die "Französisierung" wie besessen weiterzuverfolgen. Die zahlreichen Petitionen zugunsten von Deutschunterricht – wie zuletzt die von Ferdinand Moschenross, dem Leiter des Europahaus der Länder in Straßburg, der unter den Bürgermeistern im Elsaß und der Mosel mehr als tausend Unterschriften für den obligatorischen Deutschunterricht vom ersten Schuljahr an sammelte – werden ignoriert. Am schlimmsten ist, daß diese Taktik im Elsaß und in Lothringen kaum Reaktionen auslöste. Die Folge wird sein, daß diese beiden Regionen Goethe oder Rilke nicht mehr im Original lesen können, ganz zu schweigen von den elsässischen und lothringischen Schriftsteller, die von Otfried von Weissenburg im 9. Jahrhundert bis in unsere Zeit deutsch schreiben. An der Ausübung ihrer traditionellen Vermittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland gehindert, werden sie nicht länger in der Lage sein, renommierte Germanisten und Übersetzer wie Henri Lichtenberger oder Maurice Betz hervorzubringen oder Publizisten wie Albert Schweitzer, der gesagt hat: "Deutsch ist mir Muttersprache, weil der elsässische Dialekt, in dem ich sprachlich wurzle, deutsch ist."


 
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