© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Vietnam-Krieg: Ein junger deutscher Autor beschreibt den längsten Krieg im 20. Jahrhundert (Teil II und Schluß)
Die bittere Erfahrung vom totalen Krieg
Karl van den Driesch

Erfüllt der Autor Marc Frey den Anspruch, so objektiv wie möglich Daten mit Interpretationen zu liefern, die der Wahrheit nahe sind? Man muß leider verneinen. An drei Bezügen soll es aufgezeigt werden.

1. Im französischen Expeditionskorps der Jahre 1946–54 befanden sich viele Deutsche, die in den Verbänden der Fremdenlegion ihren Dienst versahen. Frey nennt die Zahl 35.000. Zumeist jugendliche Waisen und Halbwaisen seien es gewesen, lesen wir kontrafaktisch im Sinne medialer Informations-Kosmetik. In Wahrheit waren es Waffen-SS-Soldaten, die man in französischer Gefangenschaft vor die rüde Alternative stellte: 20 Jahre Zwangsarbeit oder Legion. Der Ehrenpräsident der Union Européenne des Parachutistes (UEP) war darunter, auch andere Zeitzeugen leben noch. Ein Slogan damals resümierte etwas überpointiert, daß in Dien Bien Phu die letzte Schlacht der Waffen-SS geschlagen wurde.

2. Das Wort Kriegsverbrechen, das man den Deutschen seit Jahrzehnten um die Ohren schlägt, kommt bei Frey nicht vor, obwohl der Krieg beider Seiten eine Abfolge von Kriegsverbrechen war. Kriegsverbrechen sind Ereignisse, die durch das Völkerrecht nicht gedeckt sind, zum Beispiel Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung (LKO) vom 18. Oktober 1907, etwa diese: kein offenes Führen von Soldatenkennzeichen und Waffen; unbedenkliche Mittelwahl; der Gebrauch von Stoffen, die unnötig Leiden verursachen; das Töten von Zivilisten und waffenstreckenden Soldaten; das Angreifen (praktisch Zerstören) von unverteidigten Städten, Dörfern, Wohnstätten und Gebäuden; das Verwenden von Gift; eine unmenschliche Kriegsgefangenen-Behandlung ohne Urkunden über Tod und Beerdigung. Und zu nennen sind Verstöße gegen das Haager Abkommen über Neutrale vom 18. Oktober 1907, etwa diese: Gebietsverletzungen und Versorgung einer kriegführenden Truppe über neutrales Gebiet. Bleibt anzumerken: Die genannten Geldleistungen der Bundesrepublik an Süd-vietnam waren im Grunde verdeckte Exportsubventionen, die der deutschen Industrie zugute kamen über eine entsprechende Nachfrage von drüben. Gleichwohl halfen diese Geldleistungen einem Land, das zusammen mit der Großmacht USA einen Krieg abseits der Regeln führte. Ein Stück opportuner Akzeptanz? Trotz Artikel 25 Grundgesetz, wonach das Völkerrecht als Teil des Bundesrechts zu beachten und somit auch zu stützen ist?

Bombardierungen auch gegen die Zivilbevölkerung

Zum Komplex der Kriegsverbrechen fünf Verdeutlichungen:

l Genannt wurden schon die 6.000 Ziviltoten in Haiphong durch eine Aktion der Franzosen am 23. November 1946, Auslöser für den Krieg der DRV gegen die Kolonialmacht. Als Pendant läßt sich vor allem die kommunistische Tet-Offensive 1968 nennen, bei der im südvietnamesischen Hue zwischen 2.000 und 6.000 Zivilisten niedergemetzelt wurden.

Im Guerillakrieg werden selten Gefangene gemacht, die Größenordnung von nur 580 US-Rückkehrern läßt aufmerken. Durch kaum faßbare Schändungen amerikanischer Gefangener versuchte der Vietcong zusätzlich, den GIs den Schneid abzukaufen. Auf der anderen Seite förderte das amerikanische Phoenix-Programm Tötungen außerhalb des Völkerrechts, weil es Erfolge im Abnutzungskonzept nach Totenzahlen maß. Diese wurden über bodycount ermittelt. Gemeinhin eine Empfehlung, Pardon zu verweigern, a licence to kill, sogar Quoten sollen befohlen worden sein. Soldatentalk: Ein toter Vietnamese ist immer ein Vietcong. Was unterscheidet eine solche Gesinnung von einschlägigen Verbänden im Zweiten Weltkrieg? Nach dem Abzug der Amerikaner machte der Kongreß Aufbauhilfen an die Nordvietnamesen von der Klärung der Vermißtenschicksale abhängig. Geklärt wurde nichts. Seit dem schockierenden Meisterwerk "Die durch die Hölle gehen" von Michael Cimino (1978), in dem eine grausame Behandlung von US-Gefangenen gezeigt wird, weiß man warum.

l Die US-Bombardierungen richteten sich auch gegen die Zivilbevölkerung, die LKO verbietet "meuchlerische Tötung" unter Ausnutzung der Wehrlosigkeit der Opfer. Angesichts gegenläufiger Praxis wird nun eine Rechtfertigung versucht mit dem Hinweis, die LKO gelte nur für Landheere, nicht aber für den Luftkrieg (den es 1907 beim Debüt der LKO noch nicht gab); das Völkerrecht habe erst 1977 zu einer gewissen Luftkriegsordnung gefunden. Den Luftkriegern sei also erlaubt gewesen, was den Landkriegern verwehrt war? Absurd. Denn im Rechtswesen greift in solchen Fällen der Analogieschluß, tendeziell auch formuliert in der LKO-Präambel: bei Gegebenheiten, die nicht erfaßt wurden, ergäbe sich der Völkerrechtsschutz aus schon feststehenden Gebräuchen.

l Laos und Kambodscha waren neutrale Staaten, als die kommunistische Kriegspartei ihren Nachschub in den Süden durch sie hindurchleitete. Während man immer wieder die deutschen Neutralitätsverletzungen in den beiden Weltkriegen hochspielt, wird der HoChi Minh-Pfad quasi als normales Kriegsereignis gesehen wie schon im Zweiten Weltkrieg die russisch-britische Okkupation Persiens und die britisch-amerikanische Islands. Die Amerikaner antworteten auf den nicht genau zu lokalisierenden Pfad mit massiven Bombardierungen, die in Kambodscha mehrere hunderttausend Zivili-sten das Leben kosteten. Auf das kleine Laos fielen in dem unerklärten Krieg über zwei Millionen Tonnen Bomben, mehr als die alliierten Luftflotten im Zweiten Weltkrieg über Deutschland abwarfen. Schließlich rückten die Amerikaner auch mit Bodentruppen in Kambodscha ein, bezüglich Laos hatte der US-Kongreß ihnen Gleiches verboten.

l Autor Frey erwähnt nur kurz das bekannte amerikanische Massaker vom 16. März 1968 im südvietnamesischen Bauerndorf My Lai (zusammengefaßt mit dem nahen Dorf My Khe), für das später der 26jährige US-Infanterie-Leutnant William L. Calley verantwortlich gemacht und vor Gericht gestellt wurde. Er hatte mit seinen Soldaten 504 Dorfbewohner abgeschlachtet, unter ihnen 173 Kinder und 76 Babys. Calley wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch schon nach dreieinhalb Jahren – auf Betreiben des US-Präsidenten – freigesetzt. Frey weiß nur von einer Verurteilung zu dreieinhalb Jahren und reduziert die Totenzahl auf 200, ohne zu belegen oder die Diskrepanz zu erklären – man ist fatal an das zeitgeistige Zahlendrücken bei den Dresden-Toten erinnert. Und wir lesen, My Lai sei ein Einzelfall gewesen. Gestützt auf amerikanische Quellen und zwei genannte Zeugen, berichtete der Spiegel von einem Dorf in Laos, das Soldaten der Special Forces zerstörten, alle Männer, Frauen und Kinder wurden getötet. Die Special Forces, "uniformierte Rambos im Dienste der Demokratie", unterschieden nie zwischen Kombattanten und Zivilisten, Pardon wurde nicht gegeben, normale Armeevorschriften waren für sie außer Kraft gesetzt. Einen "unkonventionellen" Krieg kämpfe man, lautete die Rechtfertigung für diese Killereinsätze jenseits von Moral und Völkerrecht. Und Bernd Greiner zitiert den Veteran Ron Ridenhour: "My Lai war kein Abweichen vom Kurs, sondern ein Einhalten des Kurses." Doch auch der Gegner handelte völkerrechtswidrig. Vietminh und Vietcong arbeiteten bei ihren blutigen Aktivitäten wie selbstverständlich mit Zivilisten, setzten verdeckt Frauen, selbst Kinder und Greise todbringend ein.

l Das verbotswidrige Ablassen von Gift durch die Amerikaner erschöpfte sich nicht in chemischen Entlaubungsmitteln zur Enttarnung mit teils krebserregender Langzeitwirkung, auch Teile der Ernte wurden zur Vernichtung freigegeben. Wie das Abfackeln von Hütten und das Vergiften von Brun-nen durch Leichen/Kadaver war dies ein Zerstören von Lebensgrundlagen der Bevölkerung, auch wenn der Vietcong im Visier stand. Und der weltweit geächtete Giftgaskampfstoff Sarin kam zum Einsatz. Der Spiegel zitiert neben Tatzeugen den Generalstabschef a.D. Thomas Moorer mit der sibyllinischen Erklärung: "Es handelte sich um eine viel größere Operation als sie glauben." Das Kampfgas, von dem 15.000 Tonnen bis 1970 produziert wurden, sei "im großen und ganzen verfügbar" gewesen.

3. Marc Frey vernachlässigt in seiner Schrift die Probleme des Rotationssystems und der Einberufung. Die Stehzeit der US-Soldaten in Vietnam betrug normal nur ein Jahr – im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg, der von den GIs bis zum siegreichen Ende durchgestanden werden mußte. Ein geflügeltes Wort charakterisiert die Situation: "Die Vereinigten Staaten haben niemals zehn Jahre in Vietnam gekämpft, sondern zehnmal ein Jahr." Vietnam-Veteran Oliver Stone, der seine Kriegserinnerungen mit "Platoon" preisgekrönt verfilmte (USA 1986), machte deutlich, daß die Unterklasse bei den Bodentruppen übergewichtig vertreten war. Studenten genossen bis 1969 Privilegien, sie wurden nur selten zum Kriegsdienst eingezogen. So konnte auch US-Präsident Clinton seinerzeit den Wehrdienst in Vietnam vermeiden. Und bis auf besser vorbereitete Sonderverbände wie Special Forces und Marines kamen stets unerfahrene Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere. Die Mannschaften erhielten sogar ihre Grundausbildung in Vietnam. Bataillons-Kommandeure, maßgebend für die Motivation ihrer Soldaten, für den Geist der Truppe, standen nur sechs Monate in dieser Kommandeur-Funktion, dann wurde ausgewechselt. Und sie alle wollten heil über die Zeit kommen und nahmen dann das bißchen Erfahrung wieder mit. Die tödlichen Ausfälle durch friendly fire wegen mangelhafter Ausbildung werden mit 15 bis 20 Prozent angegeben. Kurz: die Rotation stand einem Zusammenwachsen der Einheiten schlicht entgegen. Vertrauen konnte sich so kaum bilden, eine Gemeinschaft der stabilen und starken Gefühle mit Bindekraft nicht entstehen. Das bewirkte der Gegner. Marc Frey erwähnt den Rauschgiftkonsum infolge psychischer Erosionen.

Ein anderes Spezifikum in den US-Streitkräften dieses Krieges suchen wir bei ihm vergebens: das Abschießen mißliebiger Kameraden und Führer im Gefecht. Der amerikanische Sprachschatz wurde damals um ein neues Wort bereichert: fragging von to frag = meucheln, morden. In den großen Lexika schlägt man vergebens nach. Eingang gefunden haben die Worte in "A Dictionary of Soldier Talk" mit einem Hinweis auf die Neuschöpfung im Vietnamkrieg. Fragging mag es in allen Armeen der Welt schon gegeben haben, doch in der deutschen Literatur zum Zweiten Weltkrieg hat sich so etwas nicht niedergeschlagen, was schlimmstenfalls für – immerhin denkbare – Einzelfälle spricht. Erst das Ausmaß in Vietnam, das von den Buchautoren Gabriel/Savage herausgestellt wird, gebar die Wortschöpfung. Nein, eine schlagkräftige Truppe war das gewiß nicht, die da an Zersetzung krankte. Bislang scheut sich die Publizistik, diese Seite des amerikanischen Einsatzes gebührend anzusprechen.

Eine schlagkräftige Truppe war die US-Armee nicht

Was soll man über das Frey-Buch weiter sagen, das dem kundigen Leser bereits so viel Kopfschmerzen bereitet? Hat das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten weltweit noch eine Bedeutung, ist es real noch ein Anliegen unserer Zeit? Wurde doch unlängst erst Steven Spielbergs Kriegsepos "Der Soldat James Ryan" (USA 1998), in dem waffenstreckende Soldaten von den GIs umgelegt werden, als bestes Filmdrama des Jahres ausgezeichnet und sein Regisseur mit einem Golden Globe. Gewissen Anregungen des Paperback-Bändchens wird man dankbar sein, einer kritischen und ergänzenden Nacharbeit ist man nicht enthoben.

 

Karl van den Driesch, freier Journalist, wurde 1925 in Mönchengladbach geboren; im Kriegseinsatz ab 1943 in der Heeresdivision "Großdeutschland". Eintritt in die Bundeswehr 1956, zuletzt Oberst an der Luftlandeschule Altenstadt, Leiter eines Spezialstabs für Ausbildung, Truppenversuche und Vorschriften.


 
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