© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Europa: Bernhard Friedmann über die Konsequenzen des Rücktritts der EU-Kommission
"Der Kontrolle unterwerfen"
Karl-Peter Gerigk

Herr Professor Friedmann, welche Konsequenzen hat der Rücktitt der Kommission für die kurzfristigen Entwicklungen und die weitere Zukunft der Integration in Europa?

Friedmann: Das Mandat der jetzigen Kommission läuft ohnehin zu Beginn des nächsten Jahres aus, und die Entscheidungen bezüglich der künftigen Entwicklung Europas werden in der jetzigen Phase vom Rat getroffen. Die Vorschläge der Kommission liegen ja auf dem Tisch, etwa in Form der Agenda 2000. Die Fachminister haben das Paket ja schon länger verhandelt, wie etwa die Agrarminister. Das Ergebnis muß jetzt abgesegnet, beziehungsweise auch politisch formuliert werden von den Mitgliedstaaten respektive den einzelnen Regierungschefs unter anderem auch auf den nächsten Treffen und Gipfeln, etwa dem in Berlin.

Welchen Einfluß hat der Rücktritt auf die Arbeit der deutschen Ratspräsidentschaft?

Friedmann: Die Arbeit für die deutsche Ratpräsidentschaft ist durch diesen geschlossenen Rücktritt aller Kommissare und des Kommissionspräsidenten Jacques Santer sicherlich nicht einfacher und leichter geworden. Die deutsche Ratspräsidentschaft kann nur ein Erfolg werden, wenn sie sich darauf konzentriert, die politisch notwendigen Beschlüsse herbeizuführen.

Welche Konsequenz hat dies denn für das große Reformprogramm, das in naher Zukunft und mittelfristig in Angriff genommen werden muß? Bleibt hier jetzt nicht zwangsläufig Arbeit liegen?

Friedmann: Es gibt einige zentrale Bereiche für Reformen innerhalb der EU, die in der nächsten Zeit in Angriff genommen werden müssen. Das ist zum einen die Struktur- und Regionalpolitik – aber auch die Agrarpolitik ist ganz wesentlich, denkt man nur an den Beitritt des Agrarlandes Polen. Aber ein ganz zentrales Problem ist die Finanz- und Haushaltspolitik für die Gemeinschaft. Dies vor allem auch vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung, was eine wichtige Aufgabe der nächsten Zeit sein wird. Doch dieser vorzeitige Rücktritt der Kommission hat keinen bedeutsam behindernden Einfluß auf die Realisierung dieser Vorhaben. Sie können auch trotz des Rücktritts der 20 Kommissare durchaus mit Engagement und zielstrebig angegangen werden.

Denken Sie nicht, diese Krise der Kommission verdeutlicht, daß es weitere Reformen geben muß? Braucht etwa das Parlament nicht mehr Befugnisse?

Friedmann: Das Europäische Parlament hat ja gezeigt, wie effektiv es seine jetzigen Befugnisse, seine Kontrollfunktion wahrnehmen kann. Was jetzt eingetreten ist mit dem Rücktritt der gesamten Kommission, ist im Wesentlichen das Ergebnis der effizienten und starken Arbeit des Parlamentes. Aber es ist richtig: Die künftige Kommission muß sich wesentlich offener gegenüber dem Parlament verhalten, und dies gilt vor allem auch für den Umgang mit den Medien. Auch ist es wesentlich, mehr Tranzparenz für den Bürger herzustellen, damit Vorgänge zwischen Parlament und Kommission und innnerhalb der EU ganz generell auch nachvollziehbar bleiben bzw. überhaupt erst werden. Die Öffentlichkeit muß am europäischen Entwicklungsprozeß mehr teilhaben. Hier sind im Prinzip alle Institutionen zu mehr Offenheit aufgefordert, damit der Bürger auch involviert werden kann.

Glauben Sie, daß die EU-Kommission vom Rat zu viele Aufgaben übertragen bekommen hat und deswegen auch den Überblick verlieren mußte?

Friedmann: Diese Frage ist berechtigt. Die Kommission mußte kurzfristig viele Aufgaben übernehmen, die ursprünglich nicht zu ihrem Bereich gehörten, wie etwa die Organisation der humanitären Hilfe von 1992. Aber auch im Verhältnis zu Mittel- und Osteuropa in Form der dortigen Unterstützungsprogramme hat sie hier Dinge bewältigen müssen, ohne daß hierfür das notwendige Personal vorhanden gewesen wäre. Dann mußte sich die Kommission mit externen Experten behelfen, was mit einer der Gründe dafür war, daß manches nicht so funktioniert hat, wie man es hätte erwarten dürfen. Diese zusätzlichen Aufgaben haben im Haushalt der EU natürlich auch zusätzliche Kosten verursacht, die jedoch nicht Gegenstand der Korruptionsfälle sind.

Sind auch auf unteren Ebenen der Verwaltung der Europäischen Union Vetternwirtschaft und Korruption an der Tagesordnung?

Friedmann: Was zu Recht kritisiert wird, und das haben wir als Europäischer Rechnungshof auch getan, ist jedoch nicht der Regelfall, sondern eher die Ausnahme. Es ist zu konstatieren, daß die Kommissionsmitglieder als auch die Beamten bis auf unterer Ebene sehr engagiert ihren Aufgaben nachgehen und ihre Pflicht erfüllen. Aber: Ausnahmen bestätigen immer die Regel, und hier hat der Bericht der Weisen mit den durch ihn benannten Fällen sicherlich seine positive Funktion. Der entscheidende Satz im Gutachten der Weisen ist der, in dem es heißt, " es ist nur schwer jemand zu finden, der die Verantwortung kennt und auch bereit ist, diese wahrzunehmen".

Welche strukturellen Mängel bestehen in der Verwaltung der EU, die die Korruption begünstigen?

Friedmann: Das beginnt im Prinzip mit der Struktur des Haushaltes der Europäischen Union. Der Haushalt der EU ist ein reiner Subventionshaushalt. Und daher ist dieser Haushalt auch enorm betrugsanfällig. Ich denke da zum Beispiel an die technische Hilfe, deren Kontrolle auch entsprechend schwierig ist. Ich denke ebenso an die Gutachten von Consulting-Unternehmen und ähnliche Hilfestellungen, die in Anspruch genommen werden müssen. Ein weiterer Punkt ist das Kabinettsystem, das zwar flexibel ist, andererseits aber eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen den Kommissaren und den ihnen unterstellten Generaldirektionen nicht fördert. Ein weiteres Problem, das hier genannt werden muß, ist das Minibudget. Das heißt, die Generaldirektionen verwenden teilweise Gelder, die für operationelle Politik vorgesehen sind, um zum Beispiel dringend erforderliches Personal einzustellen. Es ist klar, wenn eine Fachdirektion Leute einstellt, dann wendet sie sich an solche Fachkräfte, die sie kennt. Dies können Experten oder auch Günstlinge sein, die nur aufgrund ihrer Bekanntschaft mit dem jeweiligen Beamten hier die Möglichkeit bekommen, einen Job für Europa auszuüben– und dies auch nicht immer aus idealistischen Gründen.

Welche Kontrollmechanismen existieren oder müßten nach Ihrer Meinung geschaffen werden, um Korruption innerhalb der EU wirksam bekämpfen zu können?

Friedmann: Ganz generell findet die politische Kontrolle der Kommission durch das Europäische Parlament und den Rat statt, die zusammen die Haushaltsbehörde bilden. Die Kontrolle des Haushaltes findet grundsätzlich durch den Europäischen Rechnungshof statt. Soweit es um die Aufdeckung von Betrug geht, hat die Kommission eine Einheit geschaffen, die sich UCLAF (Einheit im Kampf gegen den Betrug) nennt und die auch durch uns, den Rechnungshof überprüft worden ist. Sie ist in ihren Kompetenzen verstärkt worden und soll auch noch weiter ausgebaut werden.

Wie schätzen Sie die Chancen zur Senkung des deutschen Nettobeitrages ein?

Friedmann: Es geht hierbei ja um eine gerechtere Lastenverteilung innerhalb der EU und zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Dies hat sich die deutsche Präsidentschaft zum Ziel genommen. Immer dann, wenn einer der Staaten weniger zahlt, müssen die anderen Staaten mehr in die Kasse legen. Es liegt in der Natur der Sache, daß dies nicht so ohne weiteres zu regeln ist und auch zu Kontrovrsen führt. Das ganze ist sicherlich eine Paketlösung, die in Verbindung gesehen werden muß mit den anderen Vorstellungen, die Deutschland hat.

Was halten Sie von dem Gedanken, daß das Parlament künftig einzelne Kommissare direkt feuern können sollte?

Friedmann: Bisher ist es dem Parlament nur möglich, die Kommission als Ganzes zum Rücktitt zu zwingen. Dies erfolgt dann auf der Grundlage eines Mißtrauensvotums, wobei ein Quorum von zwei Dritteln der Parlamentsmitglieder nötig ist. Darüber hinaus kann das Parlament einen einzelnen Kommissar nicht zum Rücktritt zwingen. Politisch kann es allerdings viel zum Ausdruck bringen.Wie sich da im Laufe der weiteren Jahre und Jahrzehnte Änderungen ergeben können, muß man sehen. Ich bin generell der Meinung, je mehr sich die Kommission in Richtung auf eine quasi-europäische Regierung entwickelt, muß sie sich nach politischen Geflogenheiten ihrer Verantwortung stellen. Dies bedeutet, sie muß sich der parlamentarischen Kontrolle vermehrt unterwerfen. Wenn die Kritik sich auf ein Gebiet eines Kommissars besonders stark konzentriert, dann könnte dieser Kommissar zum Beispiel sein Mandat einfach für einige Zeit ruhen lassen, bis alles das, was ihm vorgeworfen wird, auch entgültig geklärt werden kann.

 

Prof. Dr. Bernhard Friedmann geboren 1932 in Ottweiler, absolvierte die Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Freiburg und ist Honorarprofessor der Universität Freiburg/Breisgau. 1976 wurde Friedmann Mitglied des Deutschen Bundestages und übernahm den Vorsitz im Ausschuß für Haushaltskontrolle. 1989 wechselte er zum Europäischen Rechnungshof, dem er von Januar1996 bis Januar1999 als Präsident vorstand.


 
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