© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert
Eine Lagunenstadt inmitten von Festland
Gerhard Quast

Im Rückblick auf die letzten hundert Jahre erscheint die Erdoberfläche wie eine Spielwiese selbsternannter "Weltbaumeister", die nach Gutdünken Landschaften umgestalteten und mit einer geradezu religiöser Technikgläubigkeit die Natur zu "perfektionieren" und den menschlichen Bedürfnissen anzupassen versuchten. Berge wurden versetzt, Reißbrett-Hauptstädte errichtet, gewaltige Flüße umgeleitet, ganze Regionen trockengelegt, kontinentübergreifende Verkehrsprojekte installiert und riesige Staudämme errichtet.

Die ohne Zweifel "gigantischste technisch-architektonische Utopie des zwanzigsten Jahrhunderts", so der Frankfurter Architekturhistoriker Wolfgang Voigt, waren die kühnen, aber bis ins kleinste Detail durchdachten Pläne für das Makroprojekt "Atlantropa", mit dem der Münchner Architekt und Schriftsteller Herman Sörgel (1885 – 1952) Europa mit dem afrikanischen Kontinent verschmelzen wollte.

Auslösende Rolle spielte dabei die 1926 in deutscher Übersetzung erschienene Weltgeschichte von Herbert George Wells (1866 – 1946), in der dieser behauptete, daß noch zu Lebzeiten des Neandertalers vor rund 50.000 Jahren kein Mittelmeer bestanden habe könne, weil eine Gebirgsschranke bei Gibraltar den Zufluß von Wassermassen aus dem Atlantik unmöglich gemacht habe. Erst unter dem Druck eiszeitlichen Schmelzwassers sei diese zusammengebrochen und habe, so die Schlußfolgerung Herman Sörgels, Atlantis unter einer gewaltigen Flutwelle begraben. Das veranlaßte den Baumeister, sich intensiver mit dem Wasserhaushalt des Mittelmeeres zu beschäftigen. Sörgel kam zu der Erkenntnis, daß das "Verdunstungsmeer" den Wasserspiegel nur durch Wasserzufluß aus dem Atlantik halten könne, Regenfälle und sonstige Zuflüsse allein nicht ausreichen würden. Untermauert wurde diese Theorie 1927 durch Otto Jessens Buch "Die Straße von Gibraltar", in dem dieser präzise ozeanographische Daten lieferte und zu dem Schluß kam, daß das Mittelmeer "nur als ein Glied des Ozeans lebensfähig" sei. Würde der Wasserzufluß unterbrochen, "so würde das Mittelmeer absterben".

Die Meeresenge von Gibraltar war somit der Knackpunkt für Sörgels "Atlantropa"-Überlegungen, die seinem Verständnis nach auf eine Umkehrung der Erdgeschichte hinausliefen. Würde es gelingen, mit einer gewaltigen Staustufe den Wasserzufluß zu regulieren, könnte das Mittelmeer jährlich um 165 Zentimeter auf bis zu 200 Meter abgesenkt, Siedlungsflächen von der Größe Frankreichs und Belgiens gewonnen und mit einem Wasserkraftwerk unvorstellbarer Größe die Energieversorgung Europas gesichert werden. Das Mittelmeer wäre am Ende des Szenarios um etwa ein Fünftel geschrumpft, Teile der Adria und der Ägäis wären verschwunden, Sardinien und Korsika zusammengewachsen, das vergrößerte Sizilien hätte eine Landbrücke zum italienischen Festland, ehemalige Hafenstädte lägen fortan im Trockenen und neue Planstädte wären aus dem Boden geschossen. Nur Venedig hätte nach der Absenkung als Lagunenstadt erhaltenbleiben sollen – durch Errichtung eines vorgelagerten künstlichen Binnensees.

Mit dem Tod Herman Sörgels 1952 wurde das technische Großprojekt "Atlantropa" endgültig zu Grabe getragen. Sörgels ehrgeizige Umgestaltungspläne gerieten für Jahrzehnte in Vergessenheit. Jetzt beschäftigen sich gleich zwei Neuerscheinungen mit dem Technikwahn des 20. Jahrhunderts im weitesten Sinne und mit den utopischen Vorstellungen Sörgels im Speziellen: Das "Weltbauen am Mittelmehr – Ein Architekturtraum der Moderne" steht im Mittelpunkt des Textbildbandes "Atlantropa" des bereits erwähnten Architekturhistorikers Wolfgang Voigt. "Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert" ist der Untertitel des soeben erschienenen Essaybands "Weiße Elefanten" von Dirk van Laak, der sich vor einigen Jahren durch seine Arbeit über Carl Schmitt ("Gespräche in der Sicherheit des Schweigens") einen Namen gemacht hat.

"Atlantropa" war aber kein Einzelfall und auch keineswegs das Hirngespinst eines Einzelgängers. Zu seinen Mitstreitern gehörten Ingenieure und Künstler, Schriftsteller und namhafte Architekten wie etwa Peter Behrens, Erich Mendelsohn, Hans Döllgast, Fritz Höger und Cornelis van Eesteren. Allen gemeinsam war die kritiklose Technikbegeisterung: "Während die Ingenieure technische Bauwerke der Superlative entwickelten, nutzten die Architekten Atlantropa als Übungsfeld für exemplarische Entwürfe zukünftiger Modellstädte", erklärt Voigt die prominente Unterstützung. Doch dieser Technikwahn war keineswegs einem bestimmten politischen System eigen, vielmehr seien im 20. Jahrhundert weder totalitäre noch plurare Systeme davor gefeit gewesen, dieser Versuchung zu erliegen und in der technischen Umgestaltung der Natur die Lösung aller ihrer Probleme zu suchen. Charakteristisch für das 20. Jahrhundert sei eine utopische Vorstellung gewesen, mit Infrastrukturbauten riesigen Ausmaßes die Landschaft im Sinne menschlicher Nutzung umzugestalten, um dadurch allgemeinen Wohlstand zu erreichen. "Spätestens seit der Katastrophe des Ersten Weltkrieges war in den Augen vieler ‘Sozialtechniker’ die professionelle Politik insgesamt diskreditiert", war "minderwertige Mechanik", so van Laak. Neben dem Soldaten, dem Arbeiter, dem Intellektuellen und dem Politiker kam so der Ingenieur als neue Leitfigur hinzu. Diese neue Elite sah sich als Baumeister einer "besseren Welt", überzeugt, die Technik entschärfe gesellschaftliche Probleme und hebe soziale Verwerfungen auf.

Zwar gab es auch früher Großbauten (Pyramiden), der "systematisch planende Zugriff auf die Erde" sei jedoch ein Phänomen unserer Zeit, betont van Laak und sieht die Ursachen dafür im Bevölkerungswachstum, dem wachsenden Nahrungsbedarf, der Ressourcenknappheit und insbesondere dem sich entwickelnden Energiebedarf. Statt sich die Endlichkeit des menschlichen Lebensraums zu vergegenwärtigen, setzten die Menschen des 20. Jahrhunderts ihr Vertrauen in die segensreiche Kraft technischer Großprojekte und überließen es omnipotenten Ingenieuren, "Ordnung in das Chaos" der Natur zu bringen: durch Kanäle, Tunnel, Staustufen.

Zum großen Vorbild "einer von Menschen betriebenen Überwindung der natürlichen Begrenzungen seines Lebensraumes" wurde nach Ansicht van Laaks der erfolgreich zu Ende gebrachte Bau des Suezkanals (1859 – 1869). Dieser stand Pate für weitere Projekte, die teils realisiert wurden, meist aber in der Planungsphase steckenblieben, wie etwa der Kanaldurchstich durch Nicaragua. Als besonders mißlungen wertet van Laak den Assuan-Staudamm und den sich daran anschließenden Nasser-See. Dadurch sei nicht nur der Wasserwechsels zwischen Dürre und Überschwemmungen verschwunden, mit ihm veränderte sich auch der Charakter der ägyptischen Kultur, von den ökologischen Folgen – der Versalzung des Nilbetts – ganz zu schweigen. Der Assuan-Staudamm ist deshalb für ihn "zu einem der prominentesten Symbole für den unverantwortlichen Umgang des Menschen mit der Naturressource Wasser geworden" und könne getrost als "Weißer Elefant" bezeichnet werden. Dieser der Sprache der Entwicklungshilfe entlehnte Begriff wird dort für gescheiterte Projekte und außerordentliche Investitionsruinen verwendet. Daß "Weiße Elefanten" sich nicht nach dem Entwicklungsstand der Länder richten, unterstreicht van Laak mit seinem Kapitel über den "Aufmarsch der Weißen Elefanten". Er erinnert darin zum Beispiel an das von Albert Speer und Adolf Hitler ersonnene "Germania" und beleuchtet auch den Westwall, der bis zu 300.000 Menschen beschäftigte, aber mehr propagandistischen als militärischen Nutzen hatte.

Die für das 20. Jahrhundert typische Fortschrittsgläubigkeit beschränkt sich aber keineswegs auf "Mythen und Legenden" der Vergangenheit. Die "bedingungslose Bejahung von Technik und Naturbezwingung" (Voigt) hat – anders als die politischen Utopien des zu Ende gehenden Jahrhunderts – nichts von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt. Projekte wie etwa der Sieben-Schluchten-Staudamm am Jangtse zeigen, daß mit irrwitzigen Großprojekten auch im kommenden Jahrtausend zu rechnen sein wird.

 

Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 304 Seiten, 39,80 Mark. Wolfgang Voigt: Atlantropa. Weltenbau am Mittelmeer, Dölling und Galitz, Hamburg 1998, 144 Seiten, 48 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen