© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Heinz Nawratil: Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948
Unbewältigte Vergangenheit
Magdalena S. Gmehling

Im Februar 1999 erschien die 4. Auflage des "Schwarzbuches der Vertreibung" von Heinz Nawratil. Ein notwendiges Buch, das durch seine Sachlichkeit und Unbestechlichkeit überzeugt. Der Verfasser ist sudentendeutscher Abstammung, Mitglied zweier Menschenrechtsorganisationen und Verfasser zahlreicher sozialpsychologischer und zeitgeschichtlicher Publikationen.

Das Werk beschäftigt sich mit einem Kapitel unbewältigter Vergangenheit, den Vertreibungsverbrechen an Deutschen vor allem während der Jahre zwischen 1945 und 1948. Es bietet einen umfassenden historischen wie völkerpsychologischen Überblick in drei Teilen. Zunächst erfolgt eine Auflistung der geschichtlichen Tatbestände. Ihm folgt ein Überblick über die Opfer der Gewalt seitens der Roten Armee, der polnischen Verwaltung, in Böhmen und Mähren, in Jugoslawien und anderen Gebieten. Eingehend werden die Motive der Tschechen, der Sowjets, der Polen, Jugoslawen wie auch der Anglo-Amerikaner durchleuchtet. Die Kollektivschuldthese erfährt eine fundierte und intelligente Erörterung. Schließlich widmet sich der Autor in eher journalistischen Gedankengängen der Frage der Bewältigung, wobei er auf das Informationsdefizit und seine Folgen verweist.

Die in der vorliegenden Publikation aufgelisteten nüchternen Fakten lassen kaum ahnen, welch apokalyptische Ereignisse von bestialischer Grausamkeit in diesem Buch zur Sprache kommen. Immer wieder werden Dokumente eingeblendet und Augenzeugenberichte abgedruckt. Erschütterndes Bildmaterial ergänzt die Wortbeiträge. Nach eingehenden statistischen Untersuchungen nennt der Autor die Zahl der Vertreibungsopfer. Für über 20 Millionen Menschen bedeutete die Vertreibung Flucht, Verschleppung, Deportation, Mißhandlung und Diskriminierung. Zwischen 2,8 und 3 Millionen fanden den Tod, wobei Heinz Nawratil sich der Sprachregelung des Statistischen Bundesamtes angleicht, das von "Nachkriegsverlusten" spricht. Angesichts dieser Millionenzahl und der völligen Vernichtung der Identität ostdeutscher Volksgruppen scheint selbst die Bezeichnung "Völkermord" gerechtfertigt.

Hinsichtlich der Motive und der Täter muß sehr differenziert geurteilt werden. Der Autor kommt nach genauesten Recherchen zu dem Schluß, daß nur ein kleiner Teil des Geschehens als spontaner Racheakt von Verfolgten des Naziregimes zu erklären ist. Weit öfter haben radikale Theoretiker der osteuropäischen Staaten die geistigen Grundlagen für die Vertreibungsverbrechen im Sinne staatlicher Liquidationspolitik geliefert. Daher liegt der Schlüssel zum Verständnis nicht so sehr bei den einzelnen Tätern als bei den verschiedenen Regierungen. Dabei ging es der tschechischen Regierung primär um expansiven Nationalismus, während die exzessive Haßpropaganda der Sowjetunion Teil eines langfristig angelegten Hegemonialstrebens in Europa war. Als wichtigstes Vertreibungsargument der polnischen Regierung wurde die angeblich nötige Kompensation für die verlorenen ostpolnischen Gebiete vorgeschoben, gelegentlich argumentierte man auch mit der früheren Besiedlung des Raumes zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Die Volksdeutschen in Jugoslawien teilten das Schicksal der Ausrottung mit 40.000 Albanern und mit den italienischen und deutschen Kriegsgefangenen. Die Vorgänge auf dem zerrissenen Balkan wurzeln in regionalen, historischen, sozialen und konfessionellen Konflikten. Begünstigt wurden die Vertreibungsverbrechen durch die Verbreitung der Kollektivschuldtheorie in den USA und in Großbritannien und die Fehleinschätzung Stalins durch Roosevelt.

Im letzten Teil des Buches beklagt der Autor einerseits die geistige Situation in der BRD, die zu einem eklatanten Informationsdefizit hinsichtlich der Vertreibungsverbrechen geführt hat, andererseits lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf die Anweisungen des Alliierten Kontrollrates, durch welche bis 1948 Veröffentlichungen über Vertreibungsverbrechen unterdrückt wurden. Zu bedenken bliebe außerdem, daß Geschichtsschreibung primär als eine Angelegenheit des Siegers gilt. Ferner ist auf die antinationale und deutschfeindliche Grundhaltung vieler Medien zu verweisen und auf das schwache Selbstbewußtsein der Deutschen.

Abschließend darf dieses Buch sicher als Standardwerk von höchster Qualität bezeichnet werden. Sein Anliegen einer geschichtlichen Klarstellung, ausgerichtet an der schonungslosen und tatsachengetreuen Aufdeckung historischer Tatbestände, vertritt es ohne Zweifel fernab von Rache- und Vergeltungsgefühlen. Man möchte der nachwachsenden Generation solch tiefschürfende Analysen als unabdingbare Pflichtlektüre empfehlen. Allen Nachgeborenen und Zeitzeugen aber sei das unendlich leidvolle und menschenverachtende Geschehen ein ernster Anlaß zur Trauer und eine beständige Mahnung.

 

Heinz Nawratil: Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, 4., überarbeitete Aufl., Universitas, München 1999, 248 Seiten, 48 Mark.


 
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