© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Weichenstellung
Karl Heinzen

Das Europa von morgen nimmt Gestalt an. Was als Herzenswunsch einer Minderheit in den 50er Jahren auf den Weg gebracht wurde, ist heute als Schicksal von der überwältigenden Mehrheit der Menschen angenommen. Diese Versachlichung hat der europäischen Einigung gut getan: Begeisterung ist selten ein qualifizierter Ratgeber, wenn es um die Regelung von Geldangelegenheiten geht. Die deutsche EU-Ratspräsidentenschaft steht unter einem guten Stern. Nach dem Scheitern von Rambouillet hätte es den politischen Stil Europas nachhaltig diskreditiert, wenn aus Berlin keine Schlußformel herausgekommen wäre. Die Brüsseler Wirren ließen in der Öffentlichkeit die Erwartung aufkommen, daß nun Änderungen anstünden, die Kontinuität verrieten. Was viele ungeduldige Beobachter als ihren Klotz am Bein schmähen, ist dabei in Wahrheit ihr Fundament: Bei Problemlösungen darf man nicht bloß auf den Zweck schauen, denn diesen können sie auch ohne weiteres Zutun, allein durch widrige Umstände verfehlen.

Worauf es ankommt, ist, daß man sich überhaupt auf sie verständigen kann. Ohne Konsens ist alles nichts. Kein noch so erstaunliches Ergebnis kann das Gespräch entwerten. Niemand muß einer Entscheidung ausweichen, weil sie in einer Gemeinschaft freier Völker jederzeit neu verhandelt werden kann. Gerhard Schröder hatte also leichtes Spiel in Berlin, und er hat gezeigt, daß er dieses beherrscht. Wer einlädt, zahlt: Vor diesem Hintergrund hat er für Deutschland mehr herausgeholt, als eine deutliche Absage an einen europa-vergessenen Populismus nahegelegt hätte. Dennoch ist es ihm gelungen, der Zukunft der Gemeinschaft eine Richtung zu weisen, die bis zur nächstenWeichenstellung Bestand haben wird. Berlin hat gezeigt: Die Europäische Union ist ohne Alternative. Dies alleine macht sie schon unersetzlich. Europa ist handlungsfähig. Auf Konsensentscheidungen kann jedoch weiterhin nur in unstrittigen Fragen verzichtet werden.

Die Gemeinschaft braucht Institutionen und zwar die, die sie hat. Die Regeln, die für diese Institutionen aufgestellt werden, sind dazu bestimmt, Beachtung zu finden, sofern dem keine triftigen Gründe entgegenstehen. Die Verfehlungen der EU-Kommission wiegen nicht so schwer, da es sich nicht um eine gewählte Institution handelt und das Ansehen der Demokratie somit nicht beschädigt wurde. Anwärterstaaten sollen ihr Interesse an einer Mitgliedschaft aus freien Stücken verlieren. Die EU-Erweiterung darf die deutsche Finanzkraft nicht zu Lasten bisheriger Netto-Empfänger überfordern. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip: Dadurch ist alles, was die Mitglieder in eigener Regie regeln, zugleich Gemeinschaftssache.

Ein Europa, das unempfänglich ist für überstürzte und eng gesteckte Kursvorgaben, das der Politik Raum für menschliche Gesten gibt, die beobachtet werden können. Der Wunsch von Joseph Fischer nach einer deutschen Führungsrolle in diesem Europa ist nachvollziehbar


 
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