© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


Pulverfaß Balkan: Geschichtsphilosophische Anmerkungen
Der Tod der Adlersöhne
Baal Müller

"Und soeben erlebten wir es, daß Europa gleichmütig zusah, wie sein letztes Urvolk, die Albaner, die ’Adlersöhne‘, die ihren Stamm bis auf die sagenhaften ’Pelasger‘ zurückführen, von den Serben zu Tausenden und Abertausenden planmäßig umgebracht wurden."

Ludwig Klages schrieb diesen bemerkenswerten Satz im Jahre 1913, in seinem bekannten Aufsatz "Mensch und Erde", der als Beitrag zu einer Tagung der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner gedacht war. Er bezog sich auf den ersten Balkankrieg 1912/13, eine Art Vorspiel des Ersten Weltkriegs. Angesichts der aktuellen Ereignisse im Kosovo stolpert man fast über die Aktualität dieses Satzes, an dem nur die mythologisierende Beschreibung der Albaner merkwürdig anmutet.

Die Serben massakrieren die Albaner, die Russen halten zu ihren südslawischen Brüdern, die wieder einmal seit der berühmten Urschlacht auf dem Amselfeld gegen die halbe Welt kämpfen müssen, früher für Europa und gegen die Türken, heute gegen Europa, aber immer um das verfluchte, blutgetränkte Kosovo. Irgendwie kennt man das schon: Landstriche werden zur "Wiege der Nation" erklärt und heiliggesprochen, uralte Feindschaften beschworen oder durch keinen sachlichen Grund nahegelegte Blutsbruderschaften wieder geschlossen. Während der Westen noch über das Ende der Geschichte philosophiert, ja gelegentlich sogar Zeit und Geschichte im globalen Dorf überhaupt aufgehoben wähnt, erhebt die Totgesagte im Osten ihr Haupt, steigt aus dem Grab – und kehrt wieder.

Zahlreiche Philosophen haben eine ewige Wiederkehr des Gleichen gelehrt: die gemäßigten von ihnen meinten, daß die Natur der Dinge im Grunde immer gleich bleibe, so daß wesentliche Veränderungen nicht zu hoffen oder zu fürchten seien; die radikaleren glaubten, daß die Dinge nicht nur im Allgemeinen, sondern sogar als ganz besondere und individuelle wiederkehrten, wenn man ihnen nur genug Zeit dazu lasse.

Friedrich Nietzsche gehört bekanntlich – zumindest nach einer gängigen Interpretation seiner Philosophie – zur zweiten Gruppe. Er dachte sich in seinem Spätwerk den Kosmos als zufällige Gestaltung einer Kraft, deren Gesamtquantum endlich sei. Diese Beschränkung resultiere aus dem Wesen der Kraft selbst; eine unbegrenzte Kraft sei nämlich vollkommen wirkungslos und undenkbar, weil jede Wirkung eine meßbare Hemmung der Kraft darstelle. Da der Kosmos ewig sei – denn wie hätte Seiendes aus Nichts entstehen sollen – müßte die kosmische Energie mit der Zeit alle möglichen Lagen, Bündelungen und Schichtungen einnehmen, ja immer schon eingenommen haben, weil sie bereits in der Vergangenheit schon unbegrenzt Zeit zur Verfügung hatte. Also müßte sich irgendwann alles wiederholen, immer wieder, unendlich oft.

Ein einfaches Gedankenexperiment, das Georg Simmel vorgetragen hat, widerlegt diese Vorstellung: Drei Kugeln – symbolische Elemente eines sehr kleinen Universums – drehen sich um die eigene Achse. Sie können sich so drehen, daß sie nach einiger Zeit dem Betrachter alle wieder dieselbe Seite zukehren, aber ihre Drehung kann auch so eingestellt werden (wenn sich ihre jeweiligen Geschwindigkeiten zueinander im Verhältnis gerader und ungerader Brüche befinden), daß sich ein bestimmtes Seitenverhältnis niemals wiederholt. Schon in einem Universum mit drei Elementen gibt es folglich eine ewige Wiederkehr des Gleichen nicht notwendig. In einem so komplexen System wie der menschlichen Staatenwelt kann eine identische Wiederkehr bestimmter Verhältnisse – noch dazu innerhalb eines Jahrhunderts – zweifellos ausgeschlossen werden; soviel weiß man auch ohne Nietzsche und Simmel.

Jedoch das Gleiche ist nicht dasselbe, der alte Adam bleibt im Grunde immer der gleiche, und doch ist kein Mensch mit einem anderen identisch. Bestimmte Strukturen, Gesetze, Urphänomene wiederholen sich und bleiben immer dieselben; aber dasjenige, was sie strukturieren, ist weder ganz gleich noch ganz verschieden, sondern immer nur mehr oder weniger ähnlich. Mit dem ganz Anderen ist ebenso wie mit dem ganz Gleichen nicht zu rechnen. Das Vergangene bleibt vergangen, ist aber trotzdem nicht völlig verschwunden. Es bleibt, wenigstens teilweise und für eine bestimmte Zeit, gespeichert in Gehirnzellen und Büchern, auf Tonbändern und Festplatten, in Gemälden und Gebäuden, ja letztlich in allen Formen des kollektiven Gedächtnisses, die wir als unsere Kultur betrachten.

Eine Wiederkehr im strengen, mathematischen Sinne ist somit ausgeschlossen, und jeder Versuch einer "Renaissance" bringt paradoxerweise etwas Neues hervor, aber das Vergangene rührt immer noch an die Gegenwart und durchwebt und durchpulst sie sogar. Es kehrt nicht wieder, aber es wirkt fort, indem jede Gegenwart Knotenpunkt und Kommunikationsmedium einer Wirkungsgeschichte ist. Diese ist freilich nicht als anonymes Geschehen aufzufassen, als Schicksal, das über unsere Köpfe hinweg waltet und seine Fäden spinnt, sondern als ein Reservoir von Erinnerungen, die teils kommen und gehen, wann sie wollen, teils aber auch – und hier setzt unsere Freiheit ein – bewußt aktiviert werden können.

Die Fortsetzung der Geschichte, die Weiterbildung einer Kultur werden dadurch erst möglich – ebenso aber auch die bewußte Geschichtsklitterung, die einseitige Auswahl, die Instrumentalisierung der Vergangenheit, sei es wie bei uns zu masochistischen, sei es wie auf den vielen Amselfeldern nicht nur in Serbien zu totalitären und chauvinistischen Zwecken.

Nationale Mythen, die etwas anderes sind als Charaktere, haben in der Moderne kein Eigenleben mehr – darin besteht der Unterschied zum archaischen Mythos –, sondern sie sind willkürliche, oft zynische Konstrukte. Wenn die Adlersöhne gestern wie heute gerupft werden, daß die Federn nur so fliegen, dann liegt somit keine schicksalhafte Wiederkehr des Gleichen vor.


 
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