© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Naturschutz: Russischer Truppenübungsplatz soll erstes privates Großschutzgebiet werden
Der Quadratmeter für acht Pfennig
Gerhard Quast

Wo noch vor einigen Jahren sowjetische Panzer die Landschaft durchpflügten und aus russischen Kalaschnikows Gewehrsalven abgefeuert wurden, ist inzwischen ein einzigartiges Naturparadies entstanden: 118 Brutvogel- und 534 Pflanzenarten wurden auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Lieberose nachgewiesen.

Das im Südosten Brandenburgs zwischen Beeskow und Cottbus gelegene Landschaftsmosaik aus offenen Heiden, nackten Quarzsandflächen, Pionierwäldern und Kiefernforsten verdankt seine Formen- und Artenvielfalt den Eiszeitgletschern gleichermaßen wie den Manövern der Roten Armee während der Jahrzehnte des Kalten Krieges. Zu den Raritäten wie Seeadler, Fischadler, Kraniche, Wiedehopfe, Waldwasserläufer, Schwarzstörche und Rohrdommeln gesellen sich Fischotter, Schlingnattern, Rothirsche und Wölfe, die zumindest zeitweise aus dem heute polnischen Ostbrandenburg herüberwechseln.

Zu den floristischen Seltenheiten der Moore, Seen und Seggenriede gehören zahlreiche vom Aussterben bedrohten Arten, etwa die Orchideenarten Sumpfweichwurz und Glanzkraut und die drei in Deutschland heimischen Sonnentauarten Zwerg-Igelkolben, Faden- und Schlammsegge, außerdem Blasenbinse, Braunes Schnabelried und Rauhe Armleuchterlage.

Die Sowjets übten hier für den militärischen Ernstfall

Mehr als 200 Jahre wurde das Gebiet ausschließlich militärisch genutzt; bereits Friedrich der Große und Kaiser Wilhelm ließen an der "Lieberoser Endmoräne" ihre Soldaten üben – mit Kanonen und Granaten. Und auch die Wehrmacht nutzte das 27.000 Hektar große Gelände als "Soldatenspielplatz". Seine nüchterne Bezeichnung als "Panzerwüste" hat der ehemalige Übungsplatz allerdings aus der Zeit der Sowjets, als diese auf einem der größten Truppenübungsplätze Mitteleuropas den militärischen Ernstfall probten.

Mit dem Ende der sowjetischen Besatzung ist der Erhalt der Hoch- und Niedermoore, Gletscherseen, Moorschwingrasen, Birken- und Eichenwälder allerdings keineswegs gesichert, denn der jetzige Eigentümer, die landeseigene Brandenburger Bodengesellschaft (BBG), beabsichtigt die ökologisch wertvollsten Teile im Zentrum der Fläche zu privatisieren, obwohl diese bereits als "Naturschutzgebiet im Verfahren" (NSG i.V.) einstweilig sichergestellt wurden. Hauptgrund dafür sind die enormen Kosten einer Entsorgung der militärischen Altlasten, die auf das Land Brandenburg zukämen. Nach Ansicht des Naturschutzbundes (NABU) besteht damit die akute Gefahr, daß Lieberose in die Hände von Privateigentümern fallen könnte, die mit Naturschutz nichts im Sinn haben. Um dies zu verhindern, hat der größte deutsche Naturschutzverband bereits im Herbst letzten Jahres gemeinsam mit dem Brandenburger Umweltministerium (MUNR) und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) die Stiftung "Naturlandschaften Brandenburg" ins Leben gerufen. Deren ausschließliches Ziel es ist, Lieberose und einen weiteren ehemaligen Brandenburger Truppenübungsplatz, Jüterbog West, als Schutzgebiete dauerhaft zu sichern. Der besonders vielfältige Kernbereich von Lieberose – insgesamt 3.000 Hektar – soll zu diesem Zweck von der BBG angekauft werden. Um die Summe von rund 2,5 Millionen Mark aufbringen zu können, haben der NABU, das MUNR und die ZGF beim BBG einen Verkaufsstopp von zwei Jahren erwirkt und sich gleichzeitig ein Vorkaufsrecht gesichert. Spätestens zum Jahreswechsel 2000/2001 muß die Gesamtsumme aufgebracht sein, will der Naturschutzbund das ehrgeizige Projekt erwirklichen, das kaum zwei Autostunden von Berlin entfernte Naturparadies Lieberode zum ersten privaten Großschutzgebiet umzuwandeln.

Der Vorteil gegenüber anderen Naturschutzgebieten wäre unübersehbar: "Durch die Eigenregie ist es wesentlich leichter als in staatlich kontrollierten Schutzgebieten, Interessenkonflikte mit Land- und Forstwirten zu vermeiden und die Natur sich selbst zu überlassen", erläuterte NABU-Präsident Jochen Flasbarth sein Projekt gegenüber dem Umweltmagazin natur & kosmos, das dem NABU beim Erwerb der Fläche durch eine eigene Kampagne tatkräftig unter die Arme greift. In der März-Ausgabe rief das Monatsmagazin seine Leser auf, für den Erhalt eines der "bedeutendsten Naturobjekte in Deutschland" (Michael Succow) zu spenden und dafür zu sorgen, daß "der einstige Schauplatz waffenstarrender Hochrüstung" für immer der Natur zurückgegeben werden kann und der Truppenübungsplatz Lieberose ein "Ort des Friedens" werde, so natur & kosmos. "Gemeinsam mit unseren Lesern soll dieses große Ziel erreicht werden." Unterstützt wird die Lieberose-Aktion auch von Günter Grass, einem der bekanntesten deutschen Schriftsteller der Gegenwart. Sein Motiv "Herkuleskeule" wird in einer limitierten und drucksignierten Anzahl von 5.000 Exemplaren aufgelegt. Den Kunstdruck erhält jeder Spender, der mindestens 100 Mark für das Projekt Lieberose überweist. Da ein Quadratmeter kostbarste Naturfläche nur acht Pfennig kostet, kann der NABU mit dieser kleinen Summe immerhin über 1.000 Quadratmeter Boden erwerben.

In den ersten Wochen konnte der Naturschutzbund nach Auskunft der Bonner Pressestelle mehr als 450.000 Mark auf seinem Sonderkonto "Lieberose" verbuchen. Das entspricht einem Sechstel der erforderlichen Kaufsumme. Im Moment träfen täglich neue Überweisungen ein, so daß die Initiatoren optimistisch sind, den notwendigen Geldbetrag rechtzeitig zusammen zu haben.

Schießanlagen erinnern an die frühere Nutzung

Bis die Gesamtsumme zur Verfügung steht, kann sich der ehemalige Truppenübungsplatz einstweilen praktisch ungestört von Menschenhand weiter entwickeln. Zwar gibt es zahlreiche Wege durch das ehemalige Übungsgelände, doch das Betreten der Flächen ist nicht ungefährlich. Obwohl der Übungsbetrieb vor einigen Jahren eingestellt wurde, ist das Gelände immer noch stark von Munitionsresten durchsetzt, so daß der Naturschutzbund gegenwärtig von einem Betreten der Flächen abrät. Langfristig soll das Begehen auf Wegen im Rahmen von Führungen jedoch ermöglicht werden. Auch die in der Landschaft verteilten militärischen Überbleibsel – Schießanlagen und Beobachtungsstände – will der Naturschutzbund später Stück für Stück renovieren und zugänglich machen. Insgesamt soll in Lieberose allerdings wie bisher die Natur das Kommando übernehmen – und sich selbst entfalten und entwickeln können.


 
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