© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Bombenkrieg: Wie sich die Jahre 1944 und 1999 gleichen
Aus der Geschichte lernen
Alfred Schickel

Die praktischen Auswirkungen der Bombardierungen auf die Moral sind zweifelhaft" (‘Practical Morale Effects of Bombings Dubious’) steht als Überschrift über einer Meldung des amerikanischen Geheimdienstes an die Zentrale in Washington. Statt die betroffene Bevölkerung zu demoralisieren und zur Kapitulation zu bewegen, habe man mit den Bombenabwürfen vielmehr eine "Kameradschaft des Elends erzeugt" (‘created a sort of comradeship of misery’) klärt der "V-Mann" in Bern seine Oberen am fernen Potomac weiter auf. Die angerichteten Zerstörungen seien zwar beträchtlich und hätten auch vereinzelt eine "wahre Panik hervorgerufen" (‘have created a real panic’), klarere Angriffe auf militärische Ziele und "Zerstörungen von Produktions-, Kommunikations- und Transportzentren" (‘we must evaluate the air raids primarily in destroying centers of production, communications and transportation’) würden jedoch mehr bewirken.

Diese Lage-Meldung und Operations-Empfehlung stammen freilich nicht aus dem April 1999 und haben nichts mit den Nato-Luftschlägen gegen Jugoslawien zu tun, sondern sind über ein halbes Jahrhundert alt und auf den 10./11. März 1944 datiert. Sie beschrieben ‘the German morale’ im alliierten Bombenkrieg und fußten auf Meldungen und Beobachtungen aus dem Reich. Daß sie die Stimmung der deutschen Bevölkerung im großen und ganzen zutreffend wiedergeben, bestätigen überlebende Zeitzeugen. Später aufgekommene Rechtfertigungsversuche, daß man mit diesen Bombardements den Krieg habe verkürzen wollen, nahmen sich zumeist als durchsichtige Schutzbehauptungen aus und scheinen nur noch von passionierten "Volkspädagogen" ernst genommen zu werden. Die amtierenden Nato-Strategen tun daher gut daran, die Lektüre der "Office of Strategic Services (OSS)-Dispatches" der Kriegsjahre 1934/44 in ihre künftigen Operationspläne einzubeziehen, um nicht einen einmal bereits begangenen Fehler nochmals zu wiederholen.

Lehrreiche Erfahrungen mit Bombenanschlägen

Das gilt im übrigen auch für die immer wieder angestellte Überlegung, mit solcherlei Bombenschlägen eine sympathisierende Widerstandsgruppe unterstützen zu können, um mit ihr zusammen den gemeinsamen Feind noch mehr zu schwächen. Über diese Hoffnung legte das amerikanische "Office of Strategic Services" gleichfalls lehrreiche Erfahrungsberichte vor. Einer von ihnen ist mit der vielsagenden Feststellung überschrieben: "Zivile Verluste als in keinem Verhältnis zum militärischen Wert der alliierten Bombardierungen stehend" (‘Civilian Casualities Reported Disproportionate to Military Value in Recent Allied Bombings’) und belegt anhand konkreter Beispiele die kontraproduktive Wirkung einer derartigen Kriegsführung. Ein "Widerstandsführer, dessen Loyalität und Intelligenz gesichert sind" (‘a leader of the resistance whose loyalty and intelligence are assured’) meldete als Augen- und Ohrenzeuge des Geschehens, daß "der strategische Wert der Massenbombardierungen im Vergleich zu den großen Zahlen an zivilen Verlusten so gering" sei, "daß sich Feindseligkeit gegen die Briten und Amerikaner zu zeigen" beginne (‘The strategic value of the mass bombings was so small in comparison to the large number of civilian casualities, that hostility towards the British and Americans is beginning to manifest’). So frage man sich bei den betroffenen Landsleuten, warum "weite Teile der Altstadt von Villeneuve St. Georges, La Chapelle und Rouen ernsthaft beschädigt" und dort "500 bzw. 600 und 500 Zivilisten getötet wurden" (‘Villeneuve St. Georges, La Chapelle and Rouen, in which a large section of the ancient city was seriously damaged ... is the toll of French civilians who were killed: 500 at Villeneuve St. Georges, 600 at La Chapelle, and 600 at Rouen’) und man sich "nicht auf die Rheinbrücken konzentriert" habe bzw. dorthin "nicht rasch spezialisierte Fallschirm-Saboteure entsandt wurden" (‘French opinion wishes to know why Rhine bridges are not concentrated upon, and why specialized parachute saboteurs are not sent quickly’).

Peinliche Feststellungen und Fragen, die in den verbitterten Anspielungen gipfelten: "So wie die alliierten Angriffe jetzt geflogen werden, ist die Bevölkerung Frankreichs der Meinung, daß ihre Lage nicht besser ist als jene der Nazis in Deutschland" (‘As Allied air attacks are now conducted, the people of France feel that their situation is no better than that of the Nazis in Germany’) und mit Blick auf Rouen, wo auf Betreiben der Engländer vor über 500 Jahren Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, die anzügliche Parallele zogen: "Obwohl ein so großer Teil der historischen Stadt demoliert wurde, scheint in Rouen kein militärischer Schaden entstanden zu sein" (‘Despite the fact that much of the historic city has been demolished, there seems to have been no military damage at Rouen’), um in den zynischen Vorwurf zu münden, daß "die britische Barbarei wieder einmal Jeanne d’Arc opfert" (‘British savagery is once again sacrificing Jeanne d’Arc’). Alles nachzulesen in der "OSS Official Dispatch" vom 11. Mai 1944 aus Madrid, wo der V-Mann des amerikanischen Geheimdienstes für Westeuropa saß und als hochrangiger "OSS-Resident" die Meldungen seiner Agenten zur Weitergabe nach Washington sammelte.

Erfahrungen von damals könnten heute weiterhelfen

Beinahe ähnlich wie 55 Jahre später schien man in den alliierten Befehlszentralen und Kommandostäben aus missionarischem Eifer die vorgebrachten Einwände und Bedenken beiseite geschoben und die begonnene Bomberoffensive noch intensiviert zu haben, so daß man in französischen Widerstandskreisen die von ihnen mehrfach beanstandeten Städtebombardements schließlich auch als "Terrorangriffe" wie "auf deutsche Städte" (‘as if they were terror raids on a German city’) verurteilte. Und als ob der Stimmungsbericht neusten Datums wäre, ist im amerikanischen "OSS-Bericht" von 1944 zu lesen: "Die Franzosen sind vor allem wütend, wenn die Streuung der Bombardierungen von Flügen aus großer Höhe erfolgt, was ihnen wie ein Mangel an Mut erscheint" (‘The French are angered above all when the scattering nature of the bombardment results from high altitude, which seems to them like a lack of courage’).

Offensichtlich auch von diesen Meldungen unbeeindruckt, setzten die Westalliierten ihre "Luftschläge" unvermindert fort und wählten sich – neben vielen deutschen Städten im Reich – für die Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1945 die südwestfranzösische Stadt Royan als Bombardierungsziel aus. Das Ergebnis waren neben der Zerstörung der ganzen Stadt 800 Tote und 200 Verletzte. Ein Blutopfer, das den französischen Armeegeneral und "Chef d’Etat-Major General de la Defense Nationale", Alphonse Juin, zu einem Protestschreiben an das Oberkommando der "Alliierten Expeditionsstreitkräfte" herausforterte. Darin schilderte er nicht nur das verlustreiche Geschehen mit dem Abwurf von "1.600 Tonnen Bomben" (‘1.600 tonnes de bombes’), sondern machte auch die verheerende Vorgehensweise der alliierten Bomberkommandos mit den Worten deutlich: "Vollständig die Stadt in ihrem am meisten bewohnten Teil zerstörend führte sie unter der Zivilbevölkerung zu ungefähr 800 Toten und 200 Verletzten" (‘detruisant completement la ville dans sa partie la plus habitée et faisant ainsi parmi la population civile environ 800 morts et deux cents blessés’).

US-Generalstabschef W. B. Smith beantwortete am 7. Februar 1945 den Beschwerdebrief Juins und entschuldigte im Namen Eisenhowers die erfolgte Bombardierung mit unklaren Zielvorlagen. Ein Entschuldigungsgrund, der für den genau eine Woche später erfolgten Großangriff auf Dresden nachweislich nicht vorlag. Dafür glichen sich die Kleinstadt an der Gironde und die Großstadt an der Elbe in der Dichte der betroffenen Wohnbevölkerung und der militärischen Sinnlosigkeit ihrer totalen Zerstörung.

Es ist zu hoffen, daß sich im aktuellen Geschehen zumindest dieser "Fehler" nicht wiederholt; und vielleicht verhilft ein Blick in das Jahr 1944 zu besseren Entscheidungen als vor 55 Jahren. Dann hätte man aus der Geschichte tatsächlich mehr als nur Daten gelernt.


 
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