© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Das System Milosevic
von Stephan Baier

er Krieg auf dem Balkan steht vor seiner entscheidenden Schlacht. Auf dem "Kosovo polje", dem Amselfeld, fällt die Entscheidung. Auf der einen Seite stehen die Truppen des serbischen Teilfürsten Lazar Hrebeljanovic, rund 30.000 Mann, auf der anderen die osmanischen Eroberer unter dem Befehl von Sultan Murad I., etwa 70.000 Krieger. Die feindliche Übermacht ist erdrückend, die Serben verlieren die Schlacht und in der Folge für Jahrhunderte ihre Unabhängigkeit. Doch die Niederlage wird zum Mythos, an dem sich das Volk aufrichtet.

Aus dem Meuchelmörder Milos Obilic, der sich als Überläufer ins türkische Lager einschlich und den Sultan erdolchte, wurde ein heroischer Einzelkämpfer, aus dem Amselfeld wurde "Serbiens Golgatha", aus den gefallenen Truppen ein Heer von Heiligen, aus dem Volk der Serben das "nebeski narod", das himmlische Volk. Sonderbare Mythen und Lieder entstanden, etwa das "Testament vom Kosovo", in dem geschildert wird, wie der Prophet Elias in Gestalt eines grauen Falken von Jerusalem nach Serbien flog, um Fürst Lazar vor die Wahl zwischen dem himmlischen und einem irdischen Reich zu stellen. Lazar wählte das himmlische und nahm die Niederlage auf dem Amselfeld als Opfer auf sich, "wie es die göttliche Vorsehung gewollt hatte".

610 Jahre liegen diese Ereignisse zurück, aber sie sind für den heutigen Kriegsherrn in Belgrad, Slobodan Milosevic, gegenwärtiger und wichtiger als alle aktuellen Ereignisse. Er ist in der Rolle des neuen Fürsten Lazar, der die vom Blut der serbischen Märtyrer getränkte Erde des Kosovo gegen die heutigen Eindringlinge, die Agressoren der Nato, verteidigt. Hätte Milosevic nach Jahrhunderten türkischer Oberherrschaft auf dem Balkan neuerlich Besatzungstruppen – die in den Verhandlungen von westlicher Seite geforderten Friedenstruppen – akzeptieren können? Wohl kaum. Nach allem, was ihn an die Macht brachte und an der Macht hält, muß er eher wie Fürst Lazar in die aussichtslose Schlacht ziehen, den Opfergang des Jahres 1389 wiederholen.

Milosevic hat den Kosovo-Mythos für seine eigene Karriere instrumentalisiert und ist auf dem besten Weg, selbst zum Mythos zu werden. Kaum jemand in Serbien kennt noch den wahren Hintergrund jener Massendemonstration serbischer Nationalisten im Jahr 1987, in deren Verlauf der damals 46jährige Milosevic zum Fackelträger Großserbiens – und zum Totengräber der Autonomie des Kosovo – wurde. Eine gut organisierte Menge provozierte in einem Dorf nahe der Kosovo-Metropole Pristina die Polizei und bewarf sie mit Steinen. Kurz bevor die Demonstration zu eskalieren drohte, erschien Milosevic und ließ sich die wohlvorbereiteten Klagen der Menge vortragen. Von Schikane und Unterdrückung der Serben, von niedergebrannten Häusern und geschlagenen Frauen war die Rede. Dann sprach Milosevic einen Satz, der – durch das staatliche Fernsehen ungezählte Male übertragen – ihn zum Hoffnungsträger des serbischen Nationalismus machte: "Dieses Volk darf niemand schlagen!"

Die Abkehr vom kommunistischen Internationalismus und vom titoistischen Geschwätz über "Einheit und Brüderlichkeit" in Jugoslawien kam bei Milosevic nicht spontan oder aus der Erregung der aufgeheizten Stimmung.

Sie war vorbereitet durch ein Memorandum der "Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste" vom September 1986. Darin hieß es, den Serben als größtem Volk in Jugoslawien sei ein eigener Staat versagt worden. Nur die Serben hätten zwei autonome Provinzen in ihrer Teilrepublik zu ertragen, und sie müßten auch in anderen Republiken leben. In Kroatien und Bosnien-Herzegowina seien sie der Assimilation ausgesetzt, im Kosovo würden sie durch die albanische Bevölkerungsmehrheit in ihrer Existenz bedroht. Es gebe eine anti-serbische Koalition in Jugoslawien.

Diese Gedanken setzte Slobodan Milosevic in praktische Politik um: Einerseits, um innerhalb der seit Titos Tod geschwächten Machtapparate die führende Rolle einzunehmen, andererseits, um den orientierungslos gewordenen Massen einen neuen Traum, ein neues Ziel anzubieten. Vor zehn Jahren begann er, das Volk auf die kommenden Kriege vorzubereiten. Etwa eine Million Menschen waren am 28. Juni 1989, dem "Vidov dan" – dem St. Veits-Tag, exakt 600 Jahre nach der mystifizierten Niederlage – auf dem Amselfeld versammelt; herbeigekarrt aus ganz Serbien in Sonderzügen und Tausenden Bussen. Nationalistische KP-Funktionäre, serbisch-orthodoxe Metropoliten unter Führung des greisen Patriarch German und linientreue Literaten heizten die Stimmung an. Serbische Kampflieder ertönten auf jenem Amselfeld, das schon damals zu mehr als 90 Prozent von den überwiegend muslimischen Albanern bewohnt war. Der Hauptredner, Slobodan Milosevic, verband rasch das Gedenken an das untergegangene mittelalterliche Reich Serbiens mit der Gegenwart: "Heute, sechs Jahrhunderte später, befinden wir uns wieder im Kampf und stehen vor neuen Kämpfen. Es sind keine bewaffneten Kämpfe, aber auch solche sind nicht auszuschließen."

Was er damals nicht ausschloß, setzte er bald selbst in die Tat um: Als Präsident der serbischen Republik hob er noch 1989 die Autonomie des Kosovo und der Vojvodina auf und setzte damit Titos Verfassung außer Kraft. 1991 übernahm Serbien handstreichartig die Macht im Staatspräsidium. Als sich Slowenien und Kroatien schrittweise der Demokratisierung zuwandten, setzte der Herrscher in Belgrad auf Repression und Krieg. Doch dieser Krieg diente längst nicht mehr – wie naive Politiker im Westen allzu lange glauben wollen – dem Erhalt des Vielvölkerstaates Jugoslawien. Milosevic sprach ganz ehrlich aus, was seine Kriegsziele sind: "Serbien ist überall da, wo Serben leben!"

Deshalb konnte Belgrad Slowenien, wo es keine serbische Volksgruppe gibt, nach kurzen Scharmützeln im Sommer 1991 ziehen lassen. Aus demselben Grund jedoch wollte es Kroatien auf keinen Fall aus dem jugoslawischen Völkerkerker entlassen. Um das Ziel, alle Serben in einem Staat zu vereinen, aufrechtzuerhalten, mußte Kroatien gehalten oder zumindest zerschlagen werden. So besetzten die jugoslawische Bundesarmee und serbische Tschetnikverbände Ostslawonien oder die teilweise serbisch besiedelte Krajina und rückten vor, so weit sie nur konnten. Auch Städte ohne serbischen Bevölkerungsanteil, wie Zadar oder Dobrovnik – zwei Perlen an der Adria – wurden belagert und bombardiert. In Bosnien-Herzegowina tobte mit Rückendeckung Milosevics der Psychiater Radovan Karadzic, der einen systematischen Vertreibungs- und Vernichtungsfeldzug gegen die angestammten Kroaten und bosnischen Muslime führte.

Der Westen klammerte sich jahrelang an den Aberglauben, die "Konfliktparteien" seien alle – wenn auch in unterschiedlichem Maß – schuld am Krieg. Vor allem aber predigten die internationalen Vermittler von Lord Owen bis Carl Bildt, die Probleme seien nicht militärisch, sondern nur diplomatisch und politisch zu lösen. Diese These wurde nicht einmal revidiert, als die kroatische Staatsführung nach Jahren der Defensive daran ging, die Besetzung des Landes tatsächlich militärisch zu überwinden: Zuerst in Westslawonien, später in der Krajina. Auch in Bosnien kam der Friedensprozeß erst in Gang als kroatische Truppen von Knin aus Richtung Banja Luka vorstießen.

Das Ergebnis der Feldzüge des serbischen Diktators ist bekannt. Zwar konnten seine Truppen – und die von ihm instrumentalisierten Terroristen-Verbände eines Arkan oder Karadzic – Zehntausende ermorden und vergewaltigen, Hunderttausende vertreiben und in ihrer Existenz vernichten, doch wurde der Traum von Großserbien nicht erreicht. Im Gegenteil: Milosevic verlor auch, was schon in seinen Händen war! Die besetzten Gebiete in Kroatien konnte er nicht halten, die Föderation in Bosnien-Herzegowina überlebt bisher trotz aller Obstruktion aus Banja Luka und Pale. Serbien wurde nicht größer. Die Hoffnungen, die er bei den Serben in der Krajina, in Ostslawonien oder Bosnien geweckt hatte, konnte Milosevic nicht erfüllen.

Doch sonderbarerweise hat all dies nicht zum Sturz des Diktators in Belgrad geführt. Alle Niederlagen, der wirtschaftliche Niedergang, die hartnäckige Verweigerung bürgerlicher Grundrechte, die brutale Knebelung und Gleichschaltung der Presse, die Auffassungsunterschiede mit dem letzten Verbündeten, Montenegro – nichts hat die Macht von Slobodan Milosevic in Rest-Jugoslawien gefährdet. Nach wochenlangen Demonstrationen zerbröselte das Oppositionsbündnis "Zajedno" (Gemeinsam) im Wind. Der gelernte Terrorist und nationalistische Demagoge Vojislav Seselj, der kurzzeitig eine Konkurrenz im serbischen Kernland zu werden schien, ließ sich ebenso schnell ins "System Milosevic" integrieren wie der haßsprühende Literat Vuk Draskovic. Ersterer wurde stellvertretender Ministerpräsident Serbiens, letzterer Vizepremier (Rest-)Jugoslawiens. Von Seselj stammt übrigens das Geständnis, er träume von einem Großserbien, das direkt an Großdeutschland grenzt, und die Drohung, es werde keine Albaner mehr im Kosovo geben, wenn die Nato Jugoslawien angreift.

Wer immer Milosevics Macht zu gefährden drohte, wurde entweder ruiniert (wie sein Förderer Ivan Stambolic) oder korrumpiert (wie Draskovic) oder beides nacheinander (in umgekehrter Reihenfolge etwa Karadzic). Die einzige Macht, die "Slobo" neben sich duldet, ist seine Frau Mira Markovic. Im Unterschied zu ihrem Gatten – der nur an die eigene Macht glaubt – glaubt sie an den Kommunismus, an die Überlegenheit der Serben und an die Macht.

Auch zum Kosovo-Problem hat sie eine dezidierte Überzeugung: "Die Serben werden nicht zulassen, daß es ihnen ergeht wie den Indianern vor zwei Jahrhunderten, sie werden sich weder in europäische Kurden verwandeln, noch die Rolle von neuen Juden annehmen."

Solche Äußerungen zeigen, wie das Kosovo-Problem psychologisch zu lokalisieren ist: Das "System Milosevic" betont, daß das Kosovo die Wiege des Serbentums, heiliger Boden der eigenen Geschichte und Kultur ist. "Kosovo ist das Herz Serbiens", sagte Milosevic vor zehn Jahren. Den Albanern warf er damals vor, mit "Nazi-Methoden" einen Exodus der Serben aus dem Kosovo zu provozieren. "Sie schänden unsere Frauen und brennen unsere Klöster nieder", log der Diktator in die laufende Fernsehkamera, ohne auch nur mit einem einzigen Gesichtsmuskel zu zucken. Und auch am vergangenen Mittwoch, wenige Stunden bevor die ersten Marschflugkörper der Nato ihr Ziel fanden, sagte Milosevic mit gekonnter Theatralik in einer Live-Übertragung des staatlichen Fernsehens: "Die Heimat ist in Gefahr!" und "Das Recht ist auf unserer Seite!"

Zehn Jahre lang hat Milosevic die Fackel des Krieges in andere Länder getragen. Serbische Verbände töteten in Slowenien und Kroatien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Jetzt erstmals kam der Krieg nach Belgrad. Bomben über Belgrad – das Ende von Slobodan Milosevic? Vermutlich nicht. Denn wenn sich die ganze westliche Welt gegen das kleine "Volk des Himmels" verbündet, dann bestätigt dies für die Serben nur, was man in Belgrad seit jeher hören konnte, daß es nämlich eine Weltverschwörung gegen Serbien gebe. Im Jahr 1990 sagte mir ein serbischer "Oppositioneller" in Belgrad, daß Rom und Teheran an der Spitze jener Verschwörung stünden, deren Ziel die Zerstörung Serbiens sei. "Rom", damit waren die katholischen Kroaten gemeint; "Teheran" sollte die muslimische Gefahr in Bosnien beschwören. Aber auch die Albaner im Kosovo sind größtenteils Muslime.

Nein, Milosevic wird sich an der Macht halten. Zumindest solange es in Serbien keine Opposition gibt, die begreift, daß wahrer Patriotismus den Ausgleich und den Frieden mit den Nachbarn sucht. Und solange der Westen nicht weiß, wofür er überhaupt kämpft, seine Kriegsziele nicht definiert. US-Präsident Bill Clinton hat zu Beginn der Operation "Entschlossene Kraft" geschildert, wie er die Kriegsziele sieht: Milosevic müsse von Attacken auf die Zivilbevölkerung abgehalten werden; die militärischen Möglichkeiten Serbiens sollten eingeschränkt werden; eine Ausweitung des Konfliktes solle verhindert werden. Man stelle sich nur für einen Augenblick vor, die Alliierten des Zweiten Weltkrieges hätten bei ihren Kampf gegen Hitler ähnlich schüchterne Ziele vor Augen gehabt. Solange die Nato das Selbstbestimmungrecht der Völker nicht auch im Kosovo durchsetzen will, kann der Herr von Belgrad die Angriffe mit jeder Geste des Entgegenkommens stoppen. Alle Opfer, alles Blut und Leid helfen ihm nur, an den Mythos von 1389 anzuknüpfen und sich seinen Platz im Heldenepos Serbiens zu sichern.

 

Stephan Baier
ist Autor der in Wien erscheinenden Wochenzeitung „Zur Zeit", die uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat.
 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen