© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/99 16. April 1999


Kosovo-Krieg: Der Völkerrechtler und Rußland-Experte Wolfgang Seiffert über die Folgen des Nato-Angriffs auf Serbien
"Es geht um eine neue Weltordnung"
Dieter Stein

Herr Professor Seiffert, sind vor dem Nato-Angriff auf Serbien die politischen Möglichkeiten zur Lösung des Kosovo-Konfliktes nicht ausgeschöpft worden?

Seiffert: Die Albaner haben selbstverständlich ein Selbstbestimmungsrecht, das nach ergänzendem Völkerrecht zunächst einmal in der Form ausgeübt werden sollte, daß sie im Rahmen des jugoslawischen Bundesstaates Autonomie genießen. Das ist eigentlich unstrittig gewesen. Wenn aber ein Land wie Jugoslawien die Rechte der Albaner in dieser Weise drangsaliert, dann sagt das Völkerrecht, haben diese Minderheiten nicht nur das Recht auf Autonomie, dann haben sie auch das Recht auf Austritt aus dem Staatsverband, in dem sie sich befinden, also auf Sezession. Das hat die Nato bzw. die westlichen Staaten von vornherein kategorisch abgelehnt. Damit haben sie sich politisch wie rechtlich eine Möglichkeit genommen, ausreichend Druck auf die Führung in Belgrad auszuüben. Wenn man gesagt hätte, daß man bereit ist, notfalls auch diesen Staat als eigenes Völkerrechtssubjekt, mit allen rechtlichen und politischen Konsequenzen anzuerkennen, wäre Belgrad zurückgeschreckt und hätte gesagt: Dann machen wir doch lieber eine Autonomie im Rahmen des Bundesstaates.

Warum hat man auf diese politische Möglichkeit von vorneherein verzichtet?

Seiffert: Einmal ist es eine stereotype Position der Westmächte, man müsse diese Autonomie im Rahmen des bestehenden Staates durchführen. Aber sie sind nie zu der Konsequenz geschritten, daß es auch anders gehen kann. Man kann eigentlich nur vermuten, daß bestimmte Staaten deswegen davor zurückgeschreckt sind, weil sie selber Gebiete besitzen, in denen die Bevölkerung dann auch auf die Idee des Selbstbestimmungsrechtes kommen könnten.

Die Nato tritt also als Gegner des Selbstbestimmungsrechts im Fall Kosovo auf?

Seiffert: Jedenfalls treten sie gegen die letzte Konsequenz des Selbstbestimmungsrechtes auf.

Wie hätte dann das Szenario ausgesehen, wenn man eine Abtrennung des Kosovo politisch befürwortet hätte?

Seiffert: Das hat sich doch gezeigt, bei den anderen Staaten, die früher zu Jugoslawien gehörten, zum Beispiel bei Slowenien oder bei Kroatien. Beide Staaten haben von Anfang an darauf bestanden, daß sie unabhängige Staaten werden. Die westlichen Staaten, sprich die Mitgliedstaaten der UNO haben die beiden genannten Staaten Kroatien und Slowenien völkerrechtlich anerkannt. Damit wäre jeder weiterer Angriff der jugoslawischen Armee auf diese Staaten eine Verletzung des Völkerrechts gewesen, und diese Staaten hätten das Recht auf Selbstverteidigung gehabt nach Artikel 51 der UN-Charta.

Manche hielten die schnelle Anerkennung für einen Fehler ...

Seiffert: Dieses Argument ist erwiesenermaßen falsch. In beiden Staaten herrscht jetzt Ruhe. In Slowenien ist absolute Ruhe, in Kroatien kann man auch davon ausgehen. Überall da, wo man diese Konsequenzen nicht gezogen hat, ist es zu Auseinandersetzungen gekommen – wie in Bosnien-Herzegowina und jetzt Kosovo-Albanien.

Der Weg der Abtrennung des Kosovo hätte die Vertreibung verhindert?

Seiffert: Diese Auseinandersetzungen gibt es schließlich schon seit zehn Jahren. Ich bin überzeugt, daß es soweit nicht gekommen wäre, weil Milosevic eingeschränkt gewesen wäre. Man hätte eine Autonomie gehabt, die man auch international hätte kontrollieren können. Dann wäre es nicht zu dieser Vertreibung gekommen.

Weshalb wurde Rußland nicht stärker in die Lösung des Konfliktes einbezogen?

Seiffert: Weil man den anderen Weg gehen wollte, notfalls mit Gewalt. Die Russen waren von Anfang an der Meinung, daß das so nicht geht. Dieses Vorgehen steht schließlich im Widerspruch zur Satzung der Vereinten Nation und zum Völkerrecht überhaupt. Damit haben die Russen völkerrechtlich einen vernünftigen Standpunkt eingenommen. Es ist auch nicht so, daß die Nato-Staaten nur die Russen nicht richtig einbezogen haben: insbesondere den UNO-Sicherheitsrat haben sie ignoriert. Weil sie dort befürchten mußten, daß China und Rußland mit ihrem Vetorecht solche Beschlüsse verändern können. Aber auch der Sicherheitsrat wäre an das Völkerrecht gebunden, insbesondere an seine eigene Charta – und wenn dort der Angriffskrieg verboten ist, kann er nicht selber beschließen, ihn durchzuführen.

Wenn man jetzt wieder zurück will und Rußland wieder mit einbeziehen will, so muß man sich natürlich fragen: Was erwarten wir eigentlich von den Russen? Sollen sie nun bei Milosevic erreichen, was die Bomben nicht zustande gebracht haben? Entweder macht man sich etwas vor, oder man heuchelt. Die Russen können doch gar nicht mitwirken, nicht zuletzt aus eigenen innenpolitischen Gründen. Rußland kann nur unter der Voraussetzung aktiv werden, daß mit der Bombardierung Schluß ist. Je länger bombardiert wird, desto geringer wird die Chance, daß man die Frage überhaupt politisch löst und daß die Russen da mitmachen.

Es wird ja sehr viel von den humanitären Gründen für den Krieg gesprochen. Zeichnet sich jetzt nicht ab, daß die "humanitäre Katastrophe" eine sekundäre Rolle spielt, daß der Kosovo-Krieg vielmehr in erster Linie ein Kampf um amerikanische und russische Vormacht in Europa und auf dem Balkan ist?

Seiffert: Der Kampf ist ja bereits entschieden. Die Amerikaner haben die Vormacht ja schon. Sie sind die einzige Weltmacht, die heute handlungsfähig ist. Die humanitäre Seite, die nicht zu leugnen ist, ist einfach ein guter Vorwand, um der Welt zu zeigen: es gibt eine neue Weltordnung, in der die Vereinigten Staaten bestimmen, was richtig ist. Es wird hiermit demonstriert, daß die USA auch niemand mehr daran hindern kann. Weder die UNO noch Rußland.

Nun werden das viele deutsche Politiker wahrscheinlich sogar begrüßen! Was ist an dieser neuen Weltordnung so schlecht?

Seiffert: Eine Weltordnung, in der eine Weltmacht alleine bestimmt, was in der Welt geschieht, ist eine schlechte Weltordnung. Für alle schlecht, letzten Endes auch für die USA. Eine multipolare Welt ist viel vernünftiger. Wenn man hingegen – wie jetzt der Fall – selbst die von der UNO geschaffene Welt- und Völkerrechtsordnung in Frage stellt, dann werden sich mit Recht diverse andere Staaten fragen: Warum sollen wir uns noch an diese Ordnung halten, dann können wir ja auch machen, was wir gerade für richtig halten.

Welche innenpolitischen Folgen hat der Nato-Krieg in Rußland? Bombt die Nato die Kommunisten in Moskau an die Macht?

Seiffert: Das ist in der Tat möglich. Die Kommunisten und Schirinovsky nutzen die Situation für ihre Interessen. Insofern hat sich das Bild in Rußland verändert. Die Führung um Jelzin, Primakov und Ivanov verfolgt die Linie, den Krieg erstens zu beenden, sich zweitens aus dem Krieg herauszuhalten. Wie lange sie diese Position aber durchhalten können, ist fraglich. Die Lage in Rußland ist derzeit schwer im Griff zu behalten. Solange der Westen die Bombardierung Belgrads fortsetzt werden die oppositionellen Kräfte in Rußland weiter an Boden gewinnen. Insgesamt haben die Kommunisten aber durch den Nato-Krieg Wasser auf ihre Mühlen bekommen. Das kann sehr schnell zum Umkippen der innenpolitischen Situation in Rußland führen.

Wie interpretiert die russische Öffentlichkeit diesen Krieg?

Seiffert: Insbesondere als einen gegen das Völkerrecht verstoßenden Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Man muß dazu wissen, daß anfangs in den Medien wenig über die Situation der Albaner im Kosovo berichtet wurde. Das hat sich inzwischen geändert. es wird auch über Vertreibung und bestimmte Massaker in den Medien berichtet, insbesondere in den Medien, die einen Machtantritt der Kommunisten befürchten.

Empfindet man den Krieg auch als Demütigung Rußlands?

Seiffert: Selbstverständlich! Dieser Krieg zeigt ein weiteres Mal nach der Bombardierung von Bagdad, daß die USA das tun, was sie für richtig halten, ohne auf Rußland Rücksicht zu nehmen – und Rußland das weder politisch noch militärisch verhindern kann.

Wie stark belastet der Krieg das deutsch-russische Verhältnis?

Seiffert: Bis jetzt versucht die russische Führung, die Belastung möglichst gering zu halten. Es gibt weiterhin Gespräche und Kooperationen, aber auch hier ist die Frage, wie lange man diese Situation in der Balance halten kann, ohne innenpolitisch zu verlieren.

Welche Rolle könnte Rußland jetzt überhaupt noch in einer Konfliktlösung übernehmen?

Seiffert: Rußland muß geworben werden, bei einer vernünftigen Friedenslösung mitzuwirken. Das setzt aber voraus, daß mit dem Bombardement Schluß ist. Wenn man sich dazu im Westen durchringt, dann kann Rußland bei der Aushandlung von vertraglichen Bedingungen mitwirken und zweitens bei der Überwachung der vereinbarten Friedenslösung helfen, wenn eine internationale Friedenstruppe erforderlich ist. Hier müßte unbedingt die russische Seite dabei sein. Das wird kaum unter Führung der Nato gehen, sondern da muß ein anderes Dach gefunden werden.

Es ist weder der russischen noch der jugoslawischen Seite zuzumuten, daß die Truppen, die bombardiert haben, auch zu den Friedenstruppen gehören. Die Russen werden sich nicht als Juniorpartner für einen von ihnen nicht mitgetragenen Krieg einspannen lassen. Wenn Joschka Fischer sagt, wir müßten die Russen "einbinden", dann spricht daraus eine große Arroganz gegenüber diesem Staat, der im Moment tatsächlich politisch, militärisch und ökonomisch schwach ist, mit dem man aber nicht umgehen kann, als hätte er in der Welt nichts zu sagen. Solche Töne fördern auch innenpolitisch in Rußland eine ganz gefährliche Tendenz.

Warum schätzt man die Rolle Rußlands so gering?

Seiffert: Alle konnten beobachten, wie Herr Schröder Primakov empfangen hat. Das Angebot, das Primakov aus Belgrad mitbrachte, war fraglos zweifelhaft. Aber man hat ihn behandelt wie jemanden, der am besten nicht aufgetaucht wäre. Das ist unklug, unverständlich, kontraproduktiv. Nach den Gründen müssen Sie Herrn Schröder fragen.

Man spricht im Zuge des Kosovo-Krieges vom Entstehen eines "neuen Völkerrechtes". Was soll man darunter verstehen?

Seiffert: Es ist richtig, daß man mittlerweile zu der Auffassung gekommen ist, daß die Menschenrechte nicht mehr nur allein eine innere Angelegenheit sind. Aber zweierlei muß man dabei beachten: Erstens hat dies seine Grenzen im ius cogens, in der zwingenden Norm des geltenden Völkerrechts, das beispielsweise einen Angriffskrieg wie den gegen Jugoslawien verbietet, zweitens ist ein "neues" Völkerrecht eine Zukunftsregelung. Man kann aber nicht hinweggehen über geltendes Recht.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verhöhnung des Rechtsstaates und kritisieren den saloppen Umgang seitens der deutschen Politiker mit dem internationalen Recht.

Seiffert: Die Politiker reagieren besonders trotzig, weil sie wissen, daß sie mit dieser Nato-Militäraktion geltendes Völkerrecht und das Grundgesetz verletzen. Deshalb sagen Leute wie Scharping: Wenn uns das Völkerrecht daran hindert, diesen Milosevic in die Schranken zu weisen – dann zum Teufel mit dem Völkerrecht! Das ist Geist, Niveau und Diktion der amerikanischen Lynchjustiz: Der Sheriff ist nicht da, der Staatsanwalt funktioniert nicht, na dann sind wir das Gesetz ... So kommt mir Scharping mit seinen Äußerungen auch vor. Das mag eine Rechtsauffassung sein, die in der amerikanischen Bevölkerung Anklang findet, das ist aber mit der Kultur des europäischen Rechtskreises unvereinbar. Man muß auf der Ebene bleiben, die einmal Immanuel Kant formuliert hat: Recht muß nie der Politik angepaßt werden, sondern die Politik muß sich immer dem Recht anpassen – das ist der Grundsatz des Rechtsstaates.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert ist Generalsekretär des Zentrums für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften, lebt und arbeitet überwiegend in Moskau. Seiffert wurde 1926 in Breslau geboren, schloß sich nach Kriegsdienst bei der Kriegsmarine und Gefangenschaft 1949 der westdeutschen KPD an. Seit 1956 studierte Seiffert an der Ost-Berliner Humboldtuniversität Jura mit anschließender Promotion und Habilitation. Von 1967 bis 1978 leitete Seiffert das Institut für ausländisches Recht und war Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht der DDR. Seit seiner Aussiedlung aus der DDR 1978 lehrt er an der Universität Kiel, wo er bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht war.


 
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