© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/99 16. April 1999


Zeitschriftenkritik: "Das Blättchen"
Zweifelhafte Unschuld
Philip Plickert

Vor einer längeren Zugreise wollte ich mir am Bahnhofskiosk die neueste Ausgabe von Gegengift holen, griff im Regal nach dem leuchtend roten DIN-A5 Heft und hielt plötzlich in Händen: Das Blättchen. Dasselbe Format, dieselbe Farbe, eine ähnlich Aufmachung wie Gegengift, nur eben Das Blättchen, herausgegeben vom "Freundeskreis des Blättchens". Die "Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft" erscheint erst im zweiten Jahr, ist für ihr Alter aber schon ziemlich frech. Insgeheim hegen die Herausgeber natürlich die Hoffnung, daß aus dem niedlichen Blättchen mal ein richtiges Blatt wird.

Oft sagen die Beiträge mehr über die Autoren aus als über das Thema. In Heft 6/99 fragt Erhard Crome, ob linke Politik überhaupt möglich sei in einem Land, in dem es "keine linke Mehrheit gibt". Nach der letzten Bundestagswahl hätten sich die Koordinaten des Parteiensystems verschoben, die SPD sei jetzt "die Mitte". Vom Standpunkt des pessimistischen Altlinken ausgehend, kommt es dem Autor gar nicht in den Sinn, daß vielleicht nicht SPD und Grüne auf der Skala nach rechts gerückt sind, sondern vielmehr die Achsen des Bezugssystems gehörig nach links versetzt wurden.

Unter dem Titel "Die fatale Kontinuität" schildert Siegfried Schwarz die Geschichte des politischen Antisemitismus seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Er zählt die lange Reihe rassistischer und antisemitischer Ideologen und Propagandisten auf, samt und sonders aber Personen, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg verstorben sind. Ein dünner Nachsatz, der unausgesprochen einen Bezug zur Kampagne gegen die Doppelte Staatsbürgerschaft herzustellen sucht, genügt Schwarz für die ungeheure Anklage einer ungebrochenen antisemitischen Kontinuität.

Die Mehrzahl der politischen Artikel im Blättchen sind von bemerkenswerter intellektueller Harmlosigkeit, manche ein rechtes Ärgernis, wie etwa die primitive Beschimpfung des Friedenspreisträgers Martin Walser durch einen "unruhigen Gymnasiasten". Von Phantastereien zu wirtschaftlichen Fragen bleibt der Leser dankenswerterweise verschont. Einzig eine obskure Solidaritätsaktion zugunsten eines inhaftierten tschechischen Anarchisten von der "anarchosyndikalistischen Sektion der Internationalen Arbeiter Assoziation" erinnert an den revolutionären Impetus des Blättchens.

Ausgesprochen lohnend ist dagegen der kulturelle Teil der Zeitschrift: aktuelle Romane und Dokumentationen mit Schwerpunkt Osteuropa/Asien werden besprochen, Film- und Ausstellungskritiken wechseln mit pointierten Glossen. Aus solchen feuilletonistischen Lichtblicken schöpft die Zeitschrift Kraft. Alles in allem ruht Das Blättchen in der zweifelhaften Unschuld eines geläuterten Sozialismus mit schöngeistiger Neigung.

 

"Das Blättchen" erscheint jeden zweiten Montag. Einzelpreis 4 DM, Jahresabo 103,80 DM. Bestellungen über den ND-Abo-Service, Tel. 030 / 29 39 08 00.


 
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