© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/99 16. April 1999


Theater: Peter Turrinis "Die Wirtin" in Dresden
Schmale Gratwanderung
Uwe Ullrich

Der venezianische Komödiendichter Carlo Goldini (1707–1793) schrieb Stücke, die bedeutende Schriftsteller bewundernswert fanden. Über die "Herbergswirtin" drückte sich Stendhal lobend aus, und Lord Byron behauptete, sie sei "eine der besten Komödien, die Europa je hervorgebracht hat". Mit dem Stück setzte Goldini die Tendenz fort, ein eigenständiges italienisches Lustspiel zu schaffen. Die stereotypen Masken der commedia del’arte wurden durch profilierte und einander kontrastierende Charaktere, die Hanswurstiade durch eine fein gesponnene Intrige ersetzt. Die Figur der Herbergswirtin Mirandolina gehörte zu den ersten durchdachten Frauengestalten der neuen Theatergeschichte. Selbst in Persien, China und Japan spielte man das Theaterstück. "Die Wirtin" wurde zur begehrten Paraderolle für gestandene Schauspielerinnen und aufstrebende Aktricen. Wenn Peter Turrini die Komödie nicht bearbeitet und der junge Schauspieler und Regisseur Michael Thalheimer diese nicht in Dresden auf die Bühne des Schloßtheaters gebracht hätte, wäre das heute noch so.

In der Herberge der Mirandolina (Anja Brünglinghaus) steigen zwei Herren ab, die sich um die schöne Frau bemühen: der von Holger Hübner gespielte verarmte Marchese von Albafiorita und der vermögende Aristokrat, Graf von Forlinpopoli (Mario Grünewald). Munter und variantenreich in Gestik, Mimik und Wortspiel machen sie der Wirtin den Hof und sich etwas vor. Auch der Kellner Fabricio (Thomas Eisen) glaubt, die Frau gewinnen zu können. Hoffnungen keimen bei allen durch das listenreiche Geplänkel der Mirandolina. Nur der durch Jonas Fürstenau ausdrucksstark interpretierte Cavaliere von Rippafratta zeigt sich als "Weiberfeind". Dieser grobe, nur von sich selbst eingenommene und weibliche Vorzüge keinesfalls (be)achtende Hagestolz reizt die Wirtin. Sie lockt ihn in ein kunstvoll ausgebreitetes Netz. Indem sie über alle Maßen über das weibliche Geschlecht herzieht, bestätigt sie dessen Meinung. Es fehlt nicht viel, bis der Cavaliere seinen Prinzipien untreu wird.

Weshalb in dieser Version des Turrini alles mit Fressen und Saufen begleitet sein muß, kann nur der Regisseur beantworten. Die Dresdner Inszenierung kommt einer Gratwanderung zwischen Obszönität und Gesellschaftskritik gleich. Der Hinweis am Ende des Stückes auf die "Weltsicht" Hollywoods bleibt zu dünn. Trotzdem gelang es den Schauspielerinnen und Schauspielern, gute darstellerische Einzel- und Ensembleleistungen anzubieten.

Auf die Frage, ob Theatermacher und Publikum unterschiedliche Vorstellungen über gutes Theater haben, antwortete Thalheimer: "Das passiert. Aber zum Theater gehört der Zuschauer. So habe ich immer die Hoffnung, daß die Geschichte, die ich erzähle, egal mit welchem Stück, egal mit welchen Schauspielern, verstanden wird. Ich möchte das Publikum nicht in erster Linie irritieren oder provozieren. Ich möchte es verführen." Ob man sich irritiert, provoziert oder verführt (eventuell auch amüsiert) fühlt, bleibt jedem einzelnen Zuschauer überlassen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen