© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/99 16. April 1999


Joseph Görres: "Athanasius" nach 160 Jahren neu aufgelegt
Manifest katholischen Widerstands
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

So wie die Romantik als vielbeschichtete, facettenreiche und gegensatzträchtige Erscheinung der Geistesgeschichte kaum auf eine griffige Formel zu bringen ist, so auch Joseph von Görres nicht, dieser "Odysseus der deutschen Romantiker", wie ihn Arnold Ruge, ein radikalistischer Schüler Hegels, genannt hat. Görres’ Leben ist ein symbolisches, ja geradezu ein kanonisches Leben. Es umfaßt die Thesen und Antithesen, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Aufbrüche und Erneuerungen einer ganzen Epoche. Friedrich Hebbel erblickte in des greisen Görres faltenreichen Antlitz "eine Walstatt erschlagener Gedanken". Sämtliche Ideen, die den "Ozean des deutschen Geistes" seit der Französischen Revolution aufbrausend ertosen ließen, hätten das Gesicht dieses vielseitigen Mannes durchfurcht. Einen "Propheten und Zeichendeuter" nannte ihn Clemens Brentano. Ähnlich äußert sich Joseph von Eichendorff, der als neunzehnjähriger Student Görres in Heidelberg kennengelernt hat: "Es hauste dort ein einsiedlerischer Zauberer, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft mit seinen magischen Kreisen umschreibend. Es ist unglaublich, welche Gewalt dieser Mann, damals noch jung und unberühmt, über alle Jugend, die irgend geistig mit ihm in Berührung kam, nach allen Richtungen hin ausübte. Wenn Gott noch in unserer Zeit einzelne mit prophetischer Gabe begnadet, so war Görres ein Prophet, in Bildern denkend und überall auf den höchsten Zinnen der wildbewegten Zeit weissagend, mahnend und züchtigend, auch darin den Propheten vergleichbar, daß das ’Steiniget ihn!‘ häufig genug über ihn ausgerufen wurde. Jean Paul sagte von ihm zu Recht, daß er "ein Mann ist, der aus Männern besteht". Görres selbst sprach einmal von den sechs oder sieben Leben, die er gelebt habe.

Görres war nacheinander (und manchmal auch gleichzeitig) Weltbürger und Patriot, Aufklärer und Romantiker, Liberaler und Konservativer, Naturmythologe und christlicher Mystiker, Pantheist und Katholik, Volkstribun und Mann der Kirche, Zeitkritiker und Laientheologe hohen Ranges.

Obwohl er bereits mit siebzehn Jahren das Gymnasium verlassen und niemals an einer Hochschule studiert hatte, war er in Heidelberg und vor allem in München ein gefeierter Universitätslehrer. Der leidenschaftliche Autodidakt, der sich weder einem Doktorexamen noch einer Fakultätsprüfung unterzogen hatte, wurde zum Polyhistor und Praeceptor des katholischen Deutschland. Der Philosoph Schelling, so wird berichtet, hat auf die Frage, in welche Abteilung der Münchener Akademie der Wissenschaften sein Kollege, der "ordentliche Professor der allgemeinen und Litterärgeschichte", Joseph Görres, denn eigentlich gehöre, die schmeichelhafte Antwort gegeben: "In alle, er ist überall in hohem Grad zu Hause."

Wenig ist von dem Ruhme des freiheitsliebenden, kämpferischen und zuletzt tiefkatholischen Mannes übriggeblieben, den um 1840 Briefe aus dem fernen Amerika zuverlässig erreichten, welche bloß mit der Aufschrift versehen waren: "An Herrn Professor Görres in Europa". Die im Jahre 1926 begonnene Edition seiner Werke ist immer noch nicht abgeschlossen. Zwischen dem Erscheinen einzelner Bände vergehen oft Jahrzehnte, und die bereits ausgelieferten sind zum größten Teil schon vergriffen. Nur sehr alte Leute wissen noch, daß einst ein prächtiges Glasfenster die Westseite des südlichen Querschiffs des Doms zu Köln zierte, das Görres’ markante Gestalt zeigte und folgende Inschrift aufwies: Catholicae veritatis in Germania defensori glorioso, "Dem ruhmreichen Verteidiger katholischer Wahrheit in Deutschland."

Diesen Ehrentitel hat der aus Koblenz stammende und nach Zwischenstationen in Heidelberg, Straßburg und Aarau in der Schweiz nach München gekommene Gelehrte, Kämpfer und Laienprophet insbesondere wegen seines 1838 erschienenen "Athanasius" erhalten. Was das Kommunistische Manifest für den klassenkämpferisch-revolutionären Sozialismus geworden ist, das war der ein Jahrzehnt zuvor anläßlich der "Kölner Wirren" verfaßte "Athanasius" für die sich emanzipierenden deutschen Katholiken. Unter den zahlreichen politischen Flugschriften des Vormärz hat keine mit solcher Wucht auf die Zeitgenossen gewirkt wie diese innerhalb weniger Wochen niedergeschriebene Abrechnung mit dem protestantisch-preußischen Absolutismus, wie er sich am krassesten in der obrigkeits-staatlichen Bevormundung und Drangsalierung der katholischen Kirche niederschlug. Als der Kölner Erzbischof Clemens von Droste zu Vischering (1773 – 1845), ein rigoroser Gegner des "Hermenianismus" und der von Berlin erzwungenen Mischehenregelung, die den Normen der Kirche und ihrem Sakramentsverständnis diametral zuwiderlief, am 20. November 1837 unter militärischem Einsatz verhaftet, an der Ausübung seiner Hirtenpflichten brutal gehindert und nach der Festung Minden deportiert wird, verübte die Regierung eines Mitgliedsstaates der "Heiligen Allianz" einen Gewaltstreich, ähnlich wie ihn vierzig Jahre früher Napoleon begangen hatte, als er den greisen und schwerkranken Papst Pius VI. gefangennehmen und nach Valence verschleppen ließ. In Görres’ "Athanasius" hatte der spätere katholische Widerstand gegen den Nationalsozialismus – man denke an Kardinal Michael Faulhaber, Bischof Clemens Graf von Galen und den österreichischen Ordensmann P. Zyrill Fischer O.F.M. – sozusagen seine theoretische Grundlage.

Der lapidare Titel von Görres‘ Kampfschrift ist programmatisch. Er erinnert an den Heiligen Athanasius den Großen, Erzbischof von Alexandrien, Kirchenlehrer und "Vater der Orthodoxie", einen Mann scharfsinnigen Geistes, unbeugsamer Härte in dogmatischen Belangen und standhafter Ablehnung kaiserlicher Eingriffe in die geistliche Hemisphäre. Wegen seines Widerstandes gegen die Arianer mußte Athanasius fünfmal in die Verbannung gehen und insgesamt siebzehn Jahre im Exil leben (zwei davon im fernen Trier). Zu den Kernsätzen des Görres’schen "Athanasius" gehören viele, die über den unmittelbaren Anlaß hinaus gültig sind. Immer wieder gelingen dem Laientheologen und Kirchenanwalt grandiose Formulierungen, ob er nun von den unvermeidlichen Scheitern "babylonischer" Allmachtsanmaßung oder der lügnerischen Lebensfremdheit gewisser Politiker und bürokratischer Kader spricht.

An anderer Stelle heißt es, daß die Passion Christi sich in Verfolgung, Bedrängnis und Martyrium der Kirche fortsetze; ebenso habe Judas, wie die anderen Apostel, eine unsterbliche Nachkommenschaft in jenem Teil des Klerus, der das Mysterium verrät und "die alte Disziplin" als "unverzeihliche Härte" abzuschütteln trachtet. Görres zeichnet, wie später Nietzsche und Hugo Ball, das Bild einer "bürgerlichen Kaserne", einer nach Europa verpflanzten "chinesischen Mandarinenwirtschaft", wo es nur Beamte, Großpensionäre und indifferente Massen gibt. Im Grunde seien alle politischen Verirrungen eine Folge theologischer Häresien. So wie die Lehre von der Inkarnation sage: "wahrer Gott und wahrer Mensch, einer und derselbe Christus, ohne Vermischung und ohne Sonderung", so sei die im Bande der Einheit festgehaltene Zweiheit "das gottgegebene Gesetz der Christenheit". Eine Wissenschaft, die nicht eine "höhere Flamme" in ihrem Marke trage, müsse zum "Irrpflicht" werden.

Bedenkenswert ist auch Görres’ Feststellung, daß das authentische Christentum zwar eine Wissenschaft habe, aber selbst keine Wissenschaft sei: "es ist vielmehr eine Kunst, und zwar die höchste, würdigste und edelste aller Künste, ohne Genie nicht auszuüben". Doch diese gewisse Genialität, ohne die niemand Christ sein könne, sei keineswegs nur den "Geistreichen" vorbehalten, sondern teile sich vorzugsweise der "einfältigen Weisheit" mit.

Der "Athanasius" ist im Rahmen der "Gesammelten Schriften" von Joseph Görres nun neu erschienen; versehen mit Lesehilfen, Anmerkungen und weiterführenden Literaturhinweisen.

Zu dem aufmerksamsten Lesern des "Athanasius" zählt auch Görres’ jüngerer Zeitgenosse, der protestantische Existenz-Denker Kierkegaard. Vor über 160 Jahren, am 15. April 1838, notierte der dänische Philosoph in sein Tagebuch: "Ich habe in diesen Tagen Görres’ ‘Athanasius’ gelesen, nicht bloß mit den Augen, sondern mit meinem ganzen Leib und mit der Herzgrube."

 

Joseph Görres: Athanasius. Gesammelte Schriften, Bd XVII/1, Ferdinand Schöning, Paderborn 1998, 206 Seiten, 68 Mark


 
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