© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/99 16. April 1999


Jahrhundert der Vertreibung: Heinz Nawratil über die großen Bevölkerungsverschiebungen in unserer Zeit
Ein blutiges Erfolgsmodell der Moderne
Heinz Nawratil

Bei der Beschreibung der historischen Epochen benutzen unsere Geschichtsbücher gerne einprägsame Schlagworte; so spricht man vom Jahrhundert der Entdeckungen, der Kreuzzüge oder der Aufklärung. Das 20. Jahrhundert hat die besten Aussichten, einmal als das Jahrhundert der Vertreibungen in die Geschichte einzugehen. Es sind nämlich noch nie zuvor so viele Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben worden.

Die geistigen Wurzeln dieser Barbarei sitzen tiefer, als unsere Schulweisheit sich das träumen läßt. Schon der Prager Slawenkongreß von 1848 forderte, daß "neben allen Türken aus Europa, allen Italienern vom Ostufer der Adria und allen Finnen von der karelischen Nase bei Petersburg alle Deutschen östlich der Isthmuslinie Triest-Stettin vertrieben werden sollten".

Wilfried Schlau stellt dazu fest: "Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß den schärfsten Protest gegen diese Forderung und Pläne ausgerechnet Karl Marx und Friedrich Engels in ihren Artikeln für die New York Daily Tribune erhoben." Bedenkt man, daß die Serben ihre muslimischen Landsleute umgangssprachlich als "Türken" bezeichnen, so scheint sich mit der Vertreibung der Kosovo-Albaner der letzte panslawistische Traum zu verwirklichen.

Das Vertreibungsthema ist so weitläufig, daß im folgenden nur einige exemplarische Fälle aufgezählt werden können, zum Beispiel der Fall Armenien: Während des Ersten Weltkrieges beschloß die Regierung in Istanbul, die armenische Volksgruppe in Kleinasien zu vernichten. Als äußere Form für diesen planmäßigen Völkermord wählte man die Vertreibung. Offiziell sollten die Armenier "aus Sicherheitsgründen" nach Mesopotamien, in den heutigen Irak, deportiert werden. In Wirklichkeit kam weniger als die Hälfte der Unglücklichen am Ziel an: die Mehrzahl fiel unterwegs Pogromen, zum Teil aber auch staatlich organisierten Massakern zum Opfer. Wer in den Lagern nicht verhungerte, starb später bei Massenerschießungen, mit denen man Platz für Neuankömmlinge in den Lagern zu schaffen pflegte. Etwa 1,5 Millionen Armenier kamen so vor allem in den Jahren 1915 und 1916 ums Leben. "Alle Tode dieser Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie" schrieb damals der Schriftsteller Armin T. Wagener. Franz Werfel, als deutscher Jude in Prag geboren und damit doppelt sensibilisiert für die Vorboten künftigen Unheils, hat in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dash" den Opfern ein würdiges Denkmals gesetzt.

Im Vorfeld des Genozids verzeichnete man über viele Jahre hinweg religiöse und nationale Unterdrückung mit wiederkehrenden Pogromen, gelegentliche Armenieraufstände und im Weltkrieg einzelne Überläufer an der russischen Front. Die Motive der jungtürkischen Regierung klingen seltsam vertraut: Bestrafung einer illegalen Minderheit, also eine Art Kollektivschuldtheorie, Schaffung von Lebensraum für das türkische Staatsvolk und nicht zuletzt Habgier.

Ab 1919 kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Griechenland und der Türkei, begleitet von vereinzelten Morden an türkischen Zivilisten und Massenmorden an Griechen. Die Tragödie endete 1923 mit dem Abkommen von Lausanne über den "Bevölkerungsaustausch" zwischen den beiden Staaten. 480.000 Türken wurden aus Griechenland – einigermaßen geordnet – ausgesiedelt, fast 1,5 Millionen Griechen aus der Türkei. Der größere Teil dieser Griechen war allerdings schön während des Krieges gewaltsam vertrieben worden, was weitere rund 400.000 Griechen das Leben kostete. Spätere Vertreiberstaaten beriefen sich immer wieder auf den Vertrag von Lausanne, ohne zur Kenntnis zu nehmen, "welch vernichtendes Urteil die Völkerrechtswissenschaft über den Lausanner Vertrag gefällt hat", wie es Otto Kimminich einmal ausdrückte.

Weitgehend unblutig säuberte das nationalistische Polen in der Zwischenkriegszeit die 1919 polnisch gewordenen Teile Oberschlesiens und Westpreußens. Über eine Million Menschen verdrängte man zwischen 1919 und 1929 durch allerhand Schikanen aus ihrer Heimat; muttersprachliche Schulen wurden geschlossen, deutsche Zeitungen immer wieder beschlagnahmt, Gutshöfe enteignet, und protestantische Kirchgänger lebten in ständiger Angst, von polnischen Schlägertrupps verprügelt zu werden. Nicht besser erging es der Bevölkerung der von Polen annektierten Teile der Ukraine, Weißrußlands und Litauens; in der Westukraine zum Beispiel haben polnische "Patrioten" in einem einzigen Jahr 20 ukrainische Kirchen angezündet.

Im Sündenregister des deutschen Nationalsozialismus spielen Zwangsumsiedlungen eine eher untergeordnete Rolle. So hat man überraschenderweise mehr Deutsche ungesiedelt (Baldendeutsche und andere Auslandsdeutsche mußten "heim ins Reich") als Angehörige anderer Nationalitäten wie Slowenen, Franzosen oder Polen. Von letzteren zum Beispiel – der größten Gruppe – wurden knapp 400.000 vertrieben.

Wenig bekannt ist, daß die Judenpolitik des Dritten Reiches über Jahre hinweg eine Politik der Verdrängung, Vertreibung und Deportation war. Zunächst versuchte man, die "Nichtarier" durch diskriminierende Maßnahmen hinauszuekeln bzw. zur pseudofreiwilligen Auswanderung zu bewegen. Während des Krieges ging man dann allmählich zum Mittel der Deportation in östliche Ghettos und Lager über. Aber erst 1941 zählte man mehr Deportierte als Emigrierte. Noch später – ca. Mitte 1942 bis Mitte 1944 – datierte die Phase der Massenmorde großen Stils.

Die Motive der Verantwortlichen ähnelten in mancher Hinsicht denen der Armeniermorde. Zentraler als der vulgäre Rassismus dürfte wohl die Vorstellung einer "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" gewesen sein, die in den 20er Jahren weit verbreitet war (auch der junge Churchill äußerte sich einmal in diesem Sinne) und mit der großen Zahl jüdischer Spitzenfunktionäre in den kommunistischen Parteien Europas begründet wurde. Zur Kollektivschuld am Kommunismus kam der sattsam bekannte Vorwurf der illoylalen Minderheit...

Auf letzteres Argument stützte auch Stalin seine Deportationspolitik der Jahre 1940 bis 1944. Verschleppt wurden  unter anderem 1,5 Millionen Polen, 900.000 Rußlanddeutsche, 410.000 Tschetschenen, 250.000 Krimtataren, 135.000 Kalmücken usw.

Jeder dritte Deportierte kam bei der Aktion ums Leben. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa 1945–1947 war die größte Völkervertreibung der Weltgeschichte. Die Einwohnerzahl der Vertreibungsgebiete entsprach mit mehr als 20 Millionen derjenigen der Republiken Finnland, Island und Irland und der Königreiche Norwegen, Schweden und Dänemark zusammengenommen. Noch nie in der Geschichte wurde eine so große Volksgruppe mit einem Federstrich aus Geschichtsbüchern und Atlanten getilgt und zu Menschen ohne Menschenrechte gemacht. Bei der Vertreibung zum Tode gekommen sind zwischen 2,8 und drei Millionen Menschen. Die Gesamtzahl der Vertreibungstoten entspricht ziemlich genau der seinerzeitigen Einwohnerzahl der Republik Irland.

Der Vertreibung ging die Flucht voraus. Der Flucht vorangegangen aber war eine wohlkalkulierte Welle von Massenverbrechern, die – wie dieser Tage im Kosovo – die "ethnische Säuberung" beschleunigen sollten.

Felix Ermacora, bekannt als Mitglied der europäischen und der UN-Menschenrechtskommission, als UN-Gutachter für Afghanistan etc. sah in zwei umfangreichen Völkerrechtsgutachten den Tatbestand des Völkermordes im Sinn der Resolution der Vereinigten Nationen über den Genozid eindeutig erfüllt.

1995 konstatierte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Jose Ayala Lasso, in der Frankfurter Paulskirche: "Wenn die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr über die Vertreibung der Deutschen nachgedacht hätten, wären die heutigen Katastrophen und Vertreibungen, die vor allem als ‘ethnische Säuberungen’ bezeichnet werden, vielleicht nicht in diesem Ausmaß vorgekommen." Tatsächlich gingen die Vertreibungen 1947, kaum war der letzte Ostdeutsche verjagt oder erschlagen, in anderen Ländern mit unverminderter Brutalität weiter. In diesem Jahr erklärte sich Indien unabhängig von England und bald darauf die islamischen Landesteile als Republik Pakistan unabhängig von Indien. Es kam zum Krieg (1947 - 1948) und am Ende zählte man je 7,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf beiden Seiten der Grenze.

Ebenfalls 1947 legten die Vereinten Nationen einen Teilungsplan für Palästina vor, um die permanenten Auseinandersetzungen zwischen den Arabern und den einströmenden jüdischen Immigranten zu beenden. Aber es sollte anders kommen. Graf Folke Bernadotte, der Urheber des Vorschlags, wude ermordet; mit ihm starb sein Plan. Der neugegründete Staat Israel behauptete sich militärisch gegenüber seinen Nachbarn und vertrieb 80 Prozent der Palästinenser von seinem Territoritum.

Zypern war 3.000 Jahre lang eine griechische Insel. 1571 kamen die türkischen Eroberer und blieben, bis England 1878 die Insel übernahm. Nach der zyprischen Unabhängigkeit im Jahr 1960 ließ die nächste türkische Invasion nicht lange auf sich warten. Obwohl der türkische Bevölkerungsanteil nur bei 18 Prozent lag, eroberte die Türkei 1974 über 40 Prozent der Insel und vertrieb die griechische Bevölkerung.

Von allen Kontinenten hat Afrika vermutlich die meisten Vertreibungen und Vernichtungskriege erlebt, vor allem in vorkolonialer Zeit. Trotzdem sind die Grausamkeiten zwischen Hutus und Tutsis, die sich schon 1959 abzuzeichnen begannen und bis heute noch nicht zu einem Ende gekommen sind, als ganz außerordentlich zu bezeichnen. Überschritten doch in den Kleinstaaten Ruanda und Burundi sowohl die Zahl der Vertriebenen bzw. Flüchtlinge als auch die Zahl der Mordopfer die Millionengrenze.

Was sich in Bosnien erst vor kurzem und im Kosovo zur Zeit abspielt, ist allgemein bekannt und bedarf keiner weiteren Schilderung. Was nur selten beachtet wird, ist zum einen die "bewährte" Technik der ethnischen Säuberung, insbesondere die scheinbar spontanen, angeblich "aus Erbitterung" oder "als Rache" verübten Greueltaten als kalkuliertes Mittel der beschleunigten Entvölkerung und zum anderen die "historischen Ansprüche" auf fremdes Land und die angebliche "Illoyalität" bzw. Kollektivschuld der Verfolgten.

"Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier", soll Hitler einmal bemerkt haben. "Wer redet heute noch von der Vertreibung der Osteutschen", so wird sich Milosevic fragen. Wenn man ihn gewähren läßt, wird die Vertreibung zum Erfolgsmodell auch für das nächste Jahrhundert.

 

Heinz Nawratil ist Rechtsanwalt in München und Autor des Buches "Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit", das vor wenigen Wochen im Universitas Verlag, München, erschienen ist.


 
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