© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Jugoslawien: Der Balkan-Experte Michael Weithmann erläutert die Hintergründe des Konfliktes
"Ein hohes Maß an Irrationalität"
Karl-Peter Gerigk

Herr Dr. Weithmann, welche Bedeutung hat der traditionelle Panslawismus im heutigen Konflikt auf dem Balkan?

Weithmann: Wenn man den Konflikt auf dem Balkan heute betrachtet, muß man das 19. Jahrhundert als Zeitalter der nationalen Wiedergeburt berücksichtigen. Der Panslawismus spielt heute noch eine Rolle. Das merken Sie nicht nur an der Reaktion in Serbien, sondern auch in Tschechien und Polen und anderen Staaten, auch der Slowakei, die diesem Einsatz der Nato, die ja als westliches Militärbündnis betrachtet wird, sehr skeptisch gegenübersteht. In der Bevölkerung Bulgariens, Mazedoniens und der Slowakei steht man den Einsatz der Nato eher ablehnend gegenüber. Das ist eine Erbschaft auch des panslawischen Gedankens, der von Belgrad nun instrumentalisiert wird. Sie kennen ja das Angebot an Rußland und Weißrußland, eine Union mit Serbien zu bilden. Ein absurder Gedanke – es sind nicht einmal gemeinsame Grenzen vorhanden. Es gibt auch keine gemeinsame Geschichte. Aber die konservativen Gedanken des Panslawismus, sind ja auch in Rußland virulent. Gewisse konservative Kräfte – seltsamerweise auch Kommunisten – stoßen hier auf eine große Anhängerschaft. Belgrad versucht einen Gegensatz aufzubauen zwischen dem östlichen slawischen Block, wobei die Slawen hier allerdings nicht einheitlich sind, und demWesten, den Serbien mit der Nato identifiziert.

Sie sprechen in Ihrem Buch, die "BalkanChronik", von einem uralten West-Ost-Konflikt, der aufbrechen würde. Worin besteht dieser?

Weithmann: Dieser Konflikt beginnt schon mit der Teilung des römischen Reiches im 4. Jahrhundert. Der Westen war vorwiegend lateinisch geprägt und der Osten byzantinisch. Dies setzte sich fort in der katholischen Westkirche und der orthodoxen Ostkirche. Aber wenn man bedenkt, daß die Kreuzzüge, die immer den vorgeschobenen Hintergrund hatten, gegen den Islam zu kämpfen, auch das Ziel verfolgten, das byzantinische Konstantinopel zu erobern, dann wird der Antagonismus deutlich. Diese Scheidelinie läuft quer durch den Balkan. Der östliche Einflußbereich hat sich später mit dem byzantinischen und osmanischen Großreich gedeckt. In unserem Jahrhundet war dies zumTeil der kommunistische Machtbereich. Dem stand ein westlicher Block gegenüber, der selber nicht einheitlich war. Deutschland zum Beispiel war in der Geschichte noch nie so westlich wie heute, es hat immer geschwankt zwischen West und Ost. Die traditionelle Bruchlinie zwischen der Orthodoxie und dem Katholizismus kommt heute wieder ganz klar im Kroatien-Konflikt hervor. Beim Kosovo-Konflikt geht es eher um den Antagonismus zwischen Islam und Orthodoxie, obwohl der Islam bei den Kosovaren nicht fest verwurzelt ist. Die politische Klasse der Albaner ist historisch eher katholisch geprägt.

Wie sind denn die Albaner historisch in diesem Konflikt zwischen West und Ost einzuordnen?

Weithmann: Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, hier die Balkannationen gegeneiander abzugrenzen. Wir können uns auch nicht allgemein an irgendwelchen historischen Großreichen orientieren, wie das der Illyrer zum Beispiel. Das würde zu sehr Geschichte in die Gegenwart projezieren. Gesichert ist, daß das Albanische eine illyrisch-lateinische Mischsprache ist. Es ist damit eine der ältesten noch lebenden Sprachen Europas. Hieraus sollte man jedoch keine politischen Forderungen ableiten. Abgesehen von den neuen Staaten, war Albanien 1912 der letzte Balkan-Staat, der gegründet wurde. Albanien wurde als Puffer gegen Serbien auf italienischen und östrreichische Initiative gegründet. Der Balkan war immer ein Schachbrett der Diplomatie und ein Spielball der Großmächte. Albanien existiert seit 1912 mehr oder weniger prosperiered und ist immer von größerern Staaten und Staatenverbänden abhängig gewesen. Nach 1945 war es eben kommunistischer Einflußbereich. Und seit den 90er Jahren befindet sich Albanien in Zustand der Desolation.

Welche Rolle spielt die Türkei heute noch auf dem Balkan? Ist der Islam noch so wichtig wie zu Zeiten des Osmanischen Reiches?

Weithmann: Es handelt sich bei der Türkei in erster Linie um einen laizistischen Staat. Es wäre nicht gerechtfertigt, was ihre Politik anbetrifft, sie jetzt mit dem Islam zu identifizieren. Dennoch ist die Türkei wegen ihrer geopolitischen Situation natürlich in den Balkan involviert. Sie hat ja selbst einen Anteil an der balkanischen Halbinsel und wir müssen bedenken, daß die Geschichte in den Köpfen der Menschen immer sehr weit zurückgeht. Das osmanische Reich war ein euro-orientalisches Reich. Ein Großteil der Führungsschichten der heutigen Türkei kamen aus diesem Raum, so wie Atatürk zum Beispiel. Dies initiiert heute jedoch keine Großmachtpolitik seitens der Türkei. Die Türkei handelt nach der Maxime, Frieden im Inneren, Frieden nach außen, und sieht sich saturiert. Allerdings wird sie von Athen beschuldigt, einen islamischen Bogen schaffen zu wollen, nämlich über Bulgarien und Mazedonien zu Albanien. Doch das sind Spekulationen, die in der jetzigen Situation noch nicht zum Tragen gekommen sind.

Historisch gesehen gab es auf dem Balkan häufig Vielvölkerstaaten, wie das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn oder auch Jugoslawien unter Tito. Ist dies auch künftig ein Konzept für das friedliche Zusammenleben oder wird es jetzt viele Kleinstaaten geben?

Weithmann: Österreich-Ungarn und auch Jugoslawien, das waren Staaten, die einen Druck ausübten auf ihre Untertanen und die Nationalisten in den Untergrund drängten. Der Tito-Staat war der eines Diktators, der durch Druck und Repression die Völker auf dem Balkan zusammengeschirrt hat, unterstützt auch vom Westen, der einen Vorteil darin gesehen hat, Ruhe an seiner Südostflanke zu haben. Das ist eine offenkundige Tatsache. Aber die alten Nationalismen haben sich unter diesen Decken nicht aufgelöst. Nach den Erfahrungen der letzten zehn Jahre muß man wohl realistisch sagen, daß ein Zusammenleben von Kroaten, Bosniaken, Serben, Albanern auf dem Balken in einem Staatenverband nur sehr schwer vorstellbar ist. Dennoch gibt es die Option eines Staatenbundes, wie es von Dimitrov 1947 vorgeschlagen wurde. Doch wird dies wohl vom Westen nicht als realistische Konzeption verfolgt werden, obwohl der Westen auch sonst keine eigenen Konzeption zu haben scheint. Aber es ist auch schwierig die Gewichtung auf dem Balkan vorzunehmen.

Die Konzeptionen für den Balkan könnten wenn nicht vom Westen, dann doch von Rußland kommen?

Weithmann: Rußland ist seit Jahrhunderten auf dem Balkan präsent. Bulgarien ist auf russische Initiative befreit worden – auch Serbien. Die gemeinsame Orthodoxie spielt hier die entscheidenen Rolle. Auch nach 1945 hat der Balkan für Stalin eine große Bedeutung gehabt. Rußland muß eingebunden werden, da er als großer Bruder die kleinen zur Räson bringen kann. Diese Lösung des Problems, die bis zu einer Beendigung der Kriegshandlungen führt, kann nur mit Rußland in Angriff genommen werden. Heute hat Rußland jedoch keine mit einer Stimme sprechende Regierung. Das macht das Problem auch schwierig.

Stellt sich der Panslawismus in Serbien heute als ein Feind des zivilisierten Europa dar, und gibt es hierfür historische Begründungen?

Weithmann: Serbien war immer schon eine geteilte Gesellschaft. Ein Teil der Serben lebt in der Vojvodina, und sie waren Privilegierte des Habsburgerreiches. Man sprich hier von den Grenzern, jenen also, die unter Habsburger Einfluß standen und bei denen die Aufklärung gewirkt hatte und denen ein Bürgertum gebildet hat. Das sogenannte osmanische Serbien ist natürlich ein Teil, in dem die westliche-europäische Kultur weniger gegriffen hat. Serbien ist jedoch historisch gesehen eher von diesen Habsburger Serben aufgebaut worden. Das war die Elite. Serbien hat jedoch in den vergangenen hundert Jahren seine Elite immer verloren. Entweder an Österreich oder, nach der kommunistischen Machtergreifung, an den Westen. Jetzt muß man erkennen, daß die Intelligenz weitgehend aus Serbien geflohen oder mundtot ist. Serbien heute ist ein balkanischer Staat.

Wie müßten sich die Europäer und Amerikaner bei ihren Friedensbemühungen verhalten, um den historischen Begebenheiten auf dem Balkan genügend Rechnung zu tragen?

Weithmann: Man kann den historischen Bedingungen nicht Rechnung tragen, wie man am Kosovo sieht. Man kann nicht die dortige Bevölkerung, die Albaner, nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker schützen, und gleichzeitig die historische Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien gewährleisten. Man müßte bei den Nationalismen und in den Köpfen beginnen.

Der Nationalismus, so wie er in Serbien im 19. Jahrhundert entstanden ist, war eine Verdrehung des europäischen Nationalgedankens. Der Nationalismus auf dem Balkan hat nicht integrierend gewirkt. Er war nicht säkularisierend. Er hat die Religion zur Grundlage des Serbentums erklärt, ähnlich wie der kroatische Nationalismus, dessen Grundlage der Katholizismus ist. Man müßte dieses ethnisch-religiöse Denken ändern, vor allem müßte man den Kosovo-Mythos auch von serbischer Seite kritisch durchleuchten, denn er blockiert seit 200 Jahren die Aufklärung und den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Serbien. Wenn wir heute die serbischen Stimmen aus Belgrad hören, dann zeugen diese von einem Denken aus dem 19. Jahrhundert und von einem hohen Maß an Irrationalität.

 

Dr. Michael W. Weithmann, geboren 1949, studierte Ost- und Südosteuropäische Geschichte, Byzantinistik und Politische Wissenschaften in München, Wien und Istanbul. Seit 1982 ist er als wissenschaftlicher Bibliothekar an der Universität Passau tätig. Er ist Mitherausgeber der "Münchner Zeitschrift für Balkankunde" und hat zu Südosteuropa neben zahlreichen Fachbeiträgen auch Reiseberichte, journalistische Arbeiten und Sachbücher veröffentlicht, u.a. "Krisenherd Balkan" (1992), "Der ruhelose Balkan" (1993) und "Balkan-Chronik. 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident" (Verlage F. Pustet/Styria, 2. akt. und erw. Auflage 1997).


 
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