© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Sattelrobben: Wissenschaftler befürchten Aussterben der Tierart
Friedhof der Kuscheltiere
Ulrich Karlowski

Es tut mir leid, was einige meiner Landsleute mit Unterstützung der Regierung dort draußen auf dem Eis anrichten", meint Barry, Flugbegleiter bei Air Canada. So wie er sprechen sich immer mehr Kanadier gegen das jährliche Robbenmassaker auf dem Packeis im St.-Lorenz-Golf und vor der Küste von Neufundland aus. Davon unbeeindruckt, gab die kanadische Regierung in diesem Jahr die Rekordzahl von 275.000 Sattelrobben zum Erschlagen und Erschießen frei.

Nach Regierungsangaben handelt es sich dabei um nachhaltige Nutzung, da die Quote unter der jährlichen Gesamtzuwachsrate von schätzungsweise 286.700 Jungtieren liege und die Art nicht gefährdet werden könne. Die kanadische Fischereibehörde DFO (Department of Fisheries and Ocean) stützt diese Berechnungen auf eine Bestandsschätzung von 4,8 Millionen Sattelrobben, eine Zahl, die von Wissenschaftlern und Tierschutzorganisationen wie dem Internationalen Tierschutz-Fonds (IFAW) stark angezweifelt wird. "Auch ein Nichtwissenschaftler erkennt sofort, daß eine solche Angabe über eine hauptsächlich im und unter Wasser lebende Spezies nicht stimmen kann. 4,8 Millionen – das ist grotesk. Sie könnten allenfalls sagen: Es gibt zwischen drei und fünf Millionen", sagt David Lavigne, Meeresbiologe bei der International Marine Mammal Association (IMMA) in Ontario, Kanada.

Mitarbeiter des IMMA-Instituts haben jetzt Statistiken veröffentlicht, die zeigen, daß selbst wenn man die Regierungsangabe zum Gesamtbestand als Grundlage nimmt, seit 1996 – dem Jahr, in dem die Robbenjagd in Kanada im großen Stil wieder aufgenommen wurde – die Zahl der getöteten Tiere die jährliche Nachwuchsrate weit überschritt. So fließen angeschossene Robben, die später an ihren Verletzungen sterben, oder wegen eines zu kleinen oder minderwertigen Fells weggeworfene Kadaver nicht in Regierungsstatistiken ein. Nach Berechnungen der IMMA-Wissenschaftler dürften allein im vergangenen Jahr statt der offiziell erfaßten 282.070 Sattenrobben zwischen 315.918 und 397.719 Robben in Kanada gestorben sein. Nimmt man die Zahlen aus Grönland, Rußland und Norwegen (über 120.000 Tiere jährlich) und in Netzen versehentlich gefangene Robben (bis zu 30.000 Tiere jährlich) hinzu, erreicht die jährliche Todesrate – ohne natürliche Verluste durch Freßfeinde, Krankheiten oder Nahrungsmangel – schwindelerregende Höhen. 1998 sollen es bis zu 554.000 tote Sattelrobben gewesen sein, seit 1996 mehr als 1,4 Millionen. Das ist nach Meinung der IFAW bis zu sechsmal mehr, als der Bestand verkraften kann. "Wird die Quote in den kommenden Jahren nicht gesenkt, muß ein Aussterben der Population befürchtet werden", meint David Lavigne. Genau dies scheint aber die Absicht der kanadischen Regierung zu sein. "Ich würde gern die Robben getötet und verkauft sehen oder vernichtet oder verbrannt. Was ihnen widerfährt, ist mir egal. Je mehr Robben die Jäger töten, desto mehr werde ich es schätzen", so der neufundländische Fischereiminister John Effort. Vor diesem Hintergrund ist auch seine jüngste Forderung zu verstehen, die kanadische Regierung möge zwei Millionen Sattelrobben zum Töten freigeben und das Fleisch Kosovo-Flüchtlingen in Albanien und Mazedonien zur Verfügung zu stellen.

Dabei lohnt sich die "Jagd" auf die wehrlosen Tiere, die Menschen meist ganz nah an sich herankommen lassen, für die etwa 5.000 Robbenjäger nur, weil Felle und Fleisch mit großzügigen Staatssubventionen von mehr als drei Millionen Dollar jährlich bezuschußt werden. Ein Markt für die Produkte ist praktisch nicht vorhanden. Selbst Versuche, Robbenpenisse in der fernöstlichen Medizin in getrockneter, gemahlener, gewürzter oder in Alkohol eingelegter Form als potenzsteigerndes Mittel einzusetzen, scheiterten. Das Penis-Geschäft war den Kanadiern zu zwielichtig, der Verkauf wurde 1996 verboten.

Jetzt wird zu Öl eingeschmolzener Robbenblubber, der reich an Omega-3-Fettsäuren ist, als "besonders gut für Menschen" propagiert. Die ersten dieser als Fischöl gekennzeichneten Produkte – die Robbenjagd gilt in Kanada offiziell als Fischerei – sollen nach Angaben des IFAW bereits den europäischen Markt erreicht haben. Doch der wirtschaftliche Erfolg bleibt abzuwarten, zumal nicht erwiesen ist, wie stark Robbenöl mit den bei anderen Meeressäugern häufig festgestellten Anreicherungen von Umweltgiften wie PCB (polychlorierte Biphenyle) oder Pestiziden belastet ist.

Die von Wissenschaftlern, Tierschützern und großen Teilen der kanadischen Bevölkerung vorgebrachte Kritik an den brutalen Jagdmethoden und den zu hohen Quoten ist dennoch nicht ganz spurlos an der Fischereibehörde vorbeigegangen. Sie will in diesem Jahr eine neue Bestandserfassung für Sattelrobben durchführen. Bei der Festlegung der Quote für das Jahr 2000 will man sich mit den Grönländern abstimmen und erstmals Wissenschaftler beteiligen, die nicht in Diensten der DFO stehen.


 
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