© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Zeiten des Mars
von Karlheinz Weissmann

Es gibt Nachrichten, die schon veraltet sind, wenn sie veröffentlicht werden, so die von der Entscheidung des Potsdamer Landgerichts im Fall Volker Wiedersberg. Wiedersberg wurde vorgeworfen, nach der Verweigerung des Wehrdienstes auch seinen Zivildienst nicht angetreten zu haben. Das Gericht folgte am 19. April dem Antrag des Verteidigers, den Prozeß auszusetzen; ein Urteil solle erst dann ergehen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht geklärt habe. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren absehbar: Rupert Scholz von der Union äußerte Befremden, die Handlungsweise des Richters sei "abenteuerlich und anmaßend", das Wehrpflichtgesetz beruhe selbst auf einer Verfassungsnorm und könne insofern "gar nicht für verfassungswidrig" erklärt werden. Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Angelika Beer, hielt dagegen, endlich sei die "Kriminalisierung" der Totalverweigerer beendet und dem obersten Gericht die Möglichkeit gegeben, eine Entscheidung zu fällen, die im Grunde nur feststellen könne, daß "die Sicherheitslage der Bundesrepublik und die Kooperation mit den Nato-Partnern ... die Wehrpflicht nicht mehr" rechtfertige.

Das alles ist keinen Monat her und wirkt doch, als sei es in einer anderen Zeit geschehen. Wer teilt noch das Gefühl, "von Freunden umzingelt" (Volker Rühe) zu sein? Der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo hat nicht nur die erste Beteiligung deutscher Truppen an einer militärischen Operation nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht, er hat auch ein ganzes Arsenal von Argumenten unbrauchbar werden lassen. Der Gesinnungspazifismus, der in der späten Bundesrepublik wie auch im vereinten Deutschland – das bezeichnenderweise aus einer "gewaltlosen Revolution" hervorging – die Gesellschaft beherrschte, ist erledigt. Er hatte sich noch behauptet während des Golf-Kriegs, als hysterische Schüler von hysterischen Lehrern in der Überzeugung bestärkt wurden, ein neues Hiroshima finde vor ihrer Haustür statt, als ethisch unverdächtig nur derjenige war, der sich zu seiner "Angst" bekannte und mit der Parole "Kein Blut für Öl" die alten Affekte gegen die Yanquis ein letztes Mal mobilisiert werden konnten.

Das alles ist vorbei, die Koordinaten haben sich verschoben, Großbritannien und Frankreich sind bereit, sweet little Serbia mit Vernichtung zu überziehen, nicht einmal Hans-Christian Ströbele traut sich, an das antifaschistische Prä für Jugoslawien zu erinnern, und längst sind die Diskussionen über Bundeswehreinsätze im Rahmen von "friedenerhaltenden" oder "friedenschaffenden" Einsätzen vergessen. Es gibt schon Linke, die die "diskutierende, palavernde Zivilgesellschaft" (Sibylle Tönnies) unerträglich finden: Der Ernstfall ist eingetreten und hat dem ewigen Gerede ein Ende gemacht.

Der Ernstfall ist nach einem klugen Wort Rüdiger Altmanns der "wirkliche Fall", denn er zeigt die Dinge, wie sie sind, unter Abzug aller Illusionen. Aber was bedeutet das in der gegebenen Lage? Worin besteht die Wirklichkeit? Haben wir es tatsächlich mit einer Wiederkehr des Krieges in bekannter Gestalt zu tun? Wenig spricht dafür. Schon in der Auseinandersetzung zwischen dem Irak und den USA samt ihren Verbündeten fiel das Ungleichgewicht der Kräfte auf, die absolute Überlegenheit der einen, die absolute Unterlegenheit der anderen Seite. Das ist beim Kampf gegen Serbien kaum anders. Wenn Militärexperten anfangs davon sprachen, daß die jugoslawische Volksarmee ein ernstzunehmender Gegner und ihre Luftabwehr durchaus in der Lage sei, den Nato-Verbänden Schaden zuzufügen, so ist das längst als Zweckpessimismus entlarvt. Aber diese Beobachtung bleibt noch an der Oberfläche, interessanter wirkt die eigentümliche Rechtfertigung, die für den Nicht-Krieg geboten wird. Zwar versucht sich Belgrad immer wieder auf klassische Topoi des Völkerrechts – Souveränität und legitimer Kampf gegen Separationsversuche – zu berufen, aber davon ist niemand beeindruckt, so wenig wie überhaupt von rechtlichen Erwägungen, ganz gleich, ob sich diese auf das fehlende UNO-Mandat oder den Wortlaut des Nato-Vertrags beziehen. Die Akteure betrachten sich offenbar als rechtsetzend, sie handeln im Vollgefühl von Kulturheroen, die eine neue Ära einleiten, in der endlich universalen Normen Geltung verschafft wird, in der es folglich einen Krieg zwischen Staaten, die ein legitimes ius ad bellum ausüben, nicht mehr geben kann, nur noch rechtmäßige Polizeiaktionen gegen rechtlose Rechtsbrecher.

Das Verständnis von Kriegen als Polizeiaktionen geht bekanntermaßen auf den amerikanischen Entwurf einer neuen Weltordnung zurück, der bereits von Theodore Roosevelt vor dem Ersten Weltkrieg skizziert wurde. Im Zentrum der Vorstellung stand immer die Idee des Gendarmen, der notfalls den "großen Knüppel" hatte, wenn er am Häuserblock patroullierte und dabei auf verdächtige Gestalten traf. Der Neffe des ersten Roosevelt, der heute bekanntere Franklin Delano Roosevelt, sah ein, daß die USA nicht ohne eine Reihe von Hilfspolizisten auskommen würden. Der Plan, mit den "großen Fünf" – neben den Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion, China, Frankreich und Großbritannien – den Weltfrieden zu sichern, indem die Vereinten Nationen jedem deputy eine Region zur Kontrolle übertrugen, scheiterte am Ausbruch des Kalten Krieges. Dessen Ende hat dem Modell wieder Anhänger verschafft, auch wenn die Hilfspolizisten heute andere sind.

Der Grund dafür liegt darin, daß die Vereinigten Staaten oft genug unter Beweis gestellt haben, daß sie als einzige Macht über den Willen und die Fähigkeit verfügen, Frieden zu erzwingen. Es ist kleinlich, dagegen zu opponieren, ohne doch einen anderen Hegemon benennen zu können; es ist infantil, zu erwarten, daß die Probleme sich jeweils von allein – ohne Eingreifen von außen – regeln könnten. Die Bedenklichkeit des ganzen wird man weniger in der zugrundeliegenden Methode der Machtausübung, eher im utopischen Charakter der Gesamtvorstellung zu suchen haben. Im Grunde geht es um einen neuen Anlauf, das Politische aufzuheben, einen qualitativen Sprung in der Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen zu erreichen, der die Existenz solcher Beziehungen und der Staaten selbst überflüssig macht.

Mit dem Staat verschwindet dann natürlich auch der Krieg im präzisen Sinn des Wortes. In Deutschland ist man zu sehr auf die Definition von Clausewitz fixiert, daß es beim Krieg um das Handeln eines Staates als "Fortsetzung der Politik unter Beimischung anderer Mittel" geht. Davon konnte nur für einen begrenzten Zeitraum und für einen begrenzten Raum die Rede sein, nämlich, als es "Politik" und "Staat" und deshalb auch "Krieg" gab. Männer haben wohl immer gekämpft, es hat sicherlich seit alters elementare Auseinandersetzungen zwischen Einzelnen und Horden um Beute und Frauen gegeben und daneben das Sich-Beweisen in der Gefahr; noch die Sioux des vergangenen Jahrhunderts zogen nicht ins Gefecht, um zu erobern, sondern um coups zu machen, das heißt tollkühn den Gegner anzugehen und "abzuschlagen". Der Primitive kannte weder Politik noch Staat noch Krieg. Denn Krieg ist nicht jede, sondern die organisierte Form gewalttätiger Auseinandersetzung, deren Voraussetzung allein durch den Staat zu schaffen ist, Staat verstanden als dauerhafte Organisation des Machtmonopols auf einem Territorium, der Politik betreibt, um eben dieses Monopol zu wahren oder zu erweitern und von Fall zu Fall dabei den Krieg einsetzt, der aber, wenn er Krieg sein soll, dem politischen Zweck untergeordnet bleiben muß.

Der Bedeutungsverlust des Staates hat am Beginn dieses Jahrhunderts eingesetzt, und es ist hier nicht der Platz, zu zeigen, wie seine Souveränität von unten wie von oben immer wirkungsvoller in Frage gestellt wurde. Wichtig für den Zusammenhang bleibt bloß, daß diese Infragestellungen stets mit der Verheißung arbeiteten, sie würden bei der Auflösung des alten Zusammenhangs von Politik, Staat und Krieg den Krieg als etwas Böses aus der Welt schaffen.

Die Verwechslung von Krieg und Gewalt tat ein übriges, wenn versprochen wurde, daß die Demokratie oder der Sozialismus, die ökonomische Vernunft oder die Weltrepublik beheben könnten, was als Erzübel begriffen wurde. Die Verheißungen sind ungebrochen wirksam, wie man gegenwärtig beobachten kann, keine Parusieverzögerung läßt die Skepsis wachsen, die notwendig wäre.

In einem sehr lesenswerten Buch über "Die Zukunft des Krieges" hat der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld unlängst festgestellt, daß die Welt völlig neuen Auseinandersetzungen entgegengehe: "Während die vertrauten Gestalten des bewaffneten Konflikts in den Schlund der Vergangenheit sinken, recken gänzlich neue ihre Köpfe und treten an deren Stelle. Bereits heute ist die militärische Macht, welche die wichtigsten entwickelten Länder im ’Westen‘ wie im ’Osten‘ aufbieten können, für die anstehende Aufgabe kaum geeignet. Mit anderen Worten, sie ist mehr Illusion denn Substanz."

Van Creveld glaubt nicht an Konflikte zwischen großen Einheiten im Rahmen des Clash of Civilisations, sondern an den dauernden Kampf der Kleinen und Halbstarken, von ethnischen Gruppen und religiösen Fundamentalisten, sozialen und ideologischen Parteien, wirtschaftlichen Interessenverbänden und mafiosen Vereinigungen, dazwischen die wenigen "Staaten", die das kommende Jahrhundert erleben werden. "Kriege" im vollen Sinn des Wortes wird es nach van Creveld nicht mehr geben, aber eben auch kein Ende kollektiver Gewalt. Der Kampf wird ungeordnet und grausam sein, Gefangene werden nicht gemacht oder nur, um Geiseln zu haben. Jede "Hegung" der Konflikte ist zerbrochen, der Feind immer ein Verbrecher, gerechterweise der Vernichtung preisgegeben. In solchen Auseinandersetzungen sind Heere nicht mehr zu gebrauchen.

Der Kampf wird sich oft in terroristischen Formen abspielen, die Waffen, die zum Einsatz kommen, bedürfen der Präzision und nicht des wahllosen Vernichtungspotentials, des hoch trainierten Spezialisten und nicht der Massenheere, die seit der Französischen Revolution aufgestellt wurden. Sie sind auf dem Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts ganz unbrauchbar.

Insofern hat das Potsdamer Gericht vielleicht doch eine zukunftweisende Entscheidung gefällt. Allerdings nicht im gewünschten Verständnis. Die Wehrpflicht war seit der Entstehung des modernen Nationalstaats eine Ehrenpflicht. Elias Canetti berichtete über den Eindruck, den er im Deutschland der zwanziger Jahre gewann, die Deutschen hätten auf das Verbot der Wehrpflicht durch den Versailler Vertrag reagiert, als ob man ihnen die Ausübung der angestammten Religion verboten habe: "wehrlos – ehrlos".

Davon sind wir unendlich weit entfernt. Aber selbst heute sollte mit der Rechtsinstitution der Wehrpflicht noch etwas anderes verbunden sein als ein lästiger und "tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers" (Roman Herzog): die sichtbare Bindung des einzelnen an den Staat. Wer den nicht fahren lassen will, wird das Neue, das sich anbahnt, wenigstens mit gespaltenen Gefühlen beobachten.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen. Seinen Aufsatz haben wir mit freundlicher Genehmigung der in Pfaffenhofen (Raiffeisenstraße 24) erscheinenden Zeitschrift für Politik und Kultur "Gegengift" vom 15. April entnommen.


 
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