© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Rußland: Der Krieg in Jugoslawien wird im Volk tief wahrgenommen
Moderner Glaubenskrieg
Hansjörg Müller

Presse als auch die Aussagen in der Politik, Geschäftswelt und Bevölkerung Rußlands haben eines gemeinsam: selten beschränken sich die Äußerungen zum Kosovo-Krieg auf die aktuellen Ereignisse, vielmehr werden auch dessen Vorgeschichte und die Handlungsmotive der Vereinigten Staaten in die Meinungsbildung einbezogen. Vor allem das amerikanische Verhalten spielt dabei eine zentrale Rolle. Es geht den Russen zu weit, daß sich die Vereinigten Staaten nicht mit dem Gewinn des Kalten Krieges begnügen, sondern darüber hinaus mit allen Mitteln versuchen, auch noch die letzten Reste russischer Macht und Würde zu eliminieren.

Eine Wurzel für den Krieg gegen Serbien, den die Russen auch als solchen bezeichnen, ohne beschönigend vom "Kosovo-Konflikt" zu reden, ist die Osterweiterung der Nato. Die USA haben es verstanden, alle früheren Satellitenstaaten des Warschauer Paktes in die Nato aufzunehmen oder an diese zu binden. Die Föderation aus Rußland und Weißrußland wird an ihrer eigenen Westgrenze vom Nato-Staat Polen zumindest symbolisch bedroht. Das ureigenste Interessengebiet Baltikum orientert sich ebenfalls nach Westen. Der letzte Verbündete, der dem einstigen Weltreich Sowjetunion/Rußland geblieben ist, ist Serbien. Nachdem selbst einstmals eigenständige Mächte wie England und immer mehr auch Frankreich vor dem Hegemonialstreben der Amerikaner kapituliert haben, ist für letztere einfach nicht hinnehmbar, daß Serbien als letzte Bastion ihre Herrschaft über den nördlichen Teil der Welt stören könnte. Daher müssen die USA Serbien entscheidend schwächen, wogegen Rußland dazu verdammt ist, seinen treuen Verbündeten möglichst lange zu unterstützen. Es besteht sogar die erschreckende Möglichkeit, daß sich an diesem Pulverfaß der Dritte Weltkrieg entzündet. Die Russen sind sich darüber bewußt, daß sie den katastrophalen Zustand ihrer Wirtschaft selbst verschuldet haben und daß sie Hilfe aus dem Westen brauchen, um wirtschaftlich zu gesunden. Nichtsdestoweniger registrieren sie mit ohnmächtiger Wut, wie die Vereinigten Staaten den Internationalen Währungsfonds IWF immer wieder dann als ökonomisches Druckmittel mißbrauchen, wenn es gilt, den letzten Rest russischen Gewichts in der Weltpolitik zu neutralisieren.

Rußland will Eskalation des Kosovo-Krieges verhindern

Trotz all dieser Demütigungen hält sich das offizielle Rußland bis heute an die Marschrichtung, eine weitere Eskalation zu verhindern. Ungeachtet aller Unterstützung für Serbien auf den Gebieten des Informationsaustausches und der humanitären Hilfe sprach sich Präsident Jelzin eindeutig gegen eine direkte Intervention wie auch gegen Waffenlieferungen im großen Stil aus. Große Teile der russischen Generalität nehmen jedoch kein Blatt mehr vor den Mund und fordern ein direktes Eingreifen zugunsten des serbischen Brudervolkes, dem man sich durch die gemeinsame, griechisch-orthodoxe Religion sowie durch den panslawistischen Gedanken eng verbunden fühlt. Dadurch wird die bereits schwache Stellung von Präsident Jelzin im russischen Machtgefüge weiter unterminiert. Überhaupt wächst mit jeder Bombe auf Serbien die Schar der potentiellen Wähler nationalistischer Parteien in Rußland. Neben den Generälen ergreifen auch immer mehr russische Intellektuelle, Geschäftsleute und normale Bürger Partei für die Serben, deren Unterdrückung durch den Westen als Vorstufe zur Unterdrückung des eigenen Landes empfunden wird. Am Ende des Kosovokrieges kann somit ein aggressives Rußland als destabilisierender Faktor in der Weltpolitik stehen, dessen neue, nationalistische Führung vom amerikanischen Hegemonialstreben erst herbeigebombt wurde.

Ein weiterer Grund für die Härte, mit der die USA gegenüber Serbien auftreten, liegt nach Meinung führender russischer Kommentatoren in der bevorstehenden Einigung Europas. Vor allem nach dem Zerfall des Ostblocks ist Amerika eine Machtfülle zugewachsen, die in der bisherigen Weltgeschichte einzigartig ist. Das einzige Gegengewicht, das sich in absehbarer Zeit dazu bilden kann, ist ein vereinigtes Europa. Durch die Einführung des Euro wurde bereits ein erster Schritt in diese Richtung getan, der nur dann Sinn macht, wenn die politische Einigung bald folgt. Sobald dies geschieht, wird der weltpolitische Einfluß der USA schlagartig sinken. Die effektivste Möglichkeit, ein politisch emanzipiertes Europa zu verhindern, stellt das Schüren eines Unruheherdes dar, zu dessen Befriedung die Vereinigten Staaten gebraucht werden. Insofern kämpft Serbien zur Zeit auch für ein selbständigeres Europa, freilich ohne daß das die europäischen Mächte bisher begriffen hätten.

Der Angriff auf Serbien kostet Milliarden, die zwar einerseits aufgebracht werden müssen, die andererseits aber bedeutenden Einflußgruppen zugute kommen. In erster Linie ist das die amerikanische Rüstungsindustrie, die nicht nur ihre neuesten Waffen unter Realbedingungen testen kann, sondern darüber hinaus blendende Geschäfte macht. Als "Eintrittsgeld" in die Nato mußten Polen, Tschechien und Ungarn nicht unerhebliche Gelder mitbringen, die der Finanzierung des Krieges zugute kommen. Über die finanziellen Beiträge Deutschlands, Englands und Frankreichs erhöht sich wiederum deren Bindung an die USA.

In Rußland ist das Verständnis sehr viel ausgeprägter als bei uns, daß in jedem Krieg in erster Linie Menschen leiden und daß es deshalb unangebracht ist, zwischen guten (albanischen) und bösen (serbischen) Opfern zu unterscheiden. Amerika tut sich vielleicht auch deshalb so leicht, andere Völker zu bombardieren, weil es selbst niemals den Schrecken eines Bombenkrieges durchleiden mußte. Unter der Bevölkerung Rußlands gibt es sehr viel Mitgefühl für die Leiden der Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten. Gerade deshalb haben die Russen auch ein sehr gutes Gespür dafür, wie die Vereinigten Staaten selektiv die Leiden der einen Seite auf Kosten der anderen Seite überhöhen, um daraus die Rechtfertigung für einen Krieg zu ziehen, der sie in letzter Konsequenz der Weltherrschaft näherbringt.

In Rußland besteht ein Konsens darüber, daß der Nato-Einsatz gegen Serbien gegen das Völkerrecht verstößt. Einzig allein die Vereinten Nationen hätten das Recht, einen solchen Einsatz auf Grundlage der Verteidigung von Menschenrechten durchzuführen. In der Tat hat es keine Abstimmung im Sicherheitsrat gegeben. Vielmehr hätten die Amerikaner die Verhandlungen in Rambouillet bewußt "an die Wand gefahren", indem sie Serbien unannehmbare Bedingungen stellten. Die Vereinten Nationen, in deren ausschließlicher Kompetenz die Regelung derartiger Konflikte liegt, wurden von der USA-geführten Nato eindeutig übergangen. Es steht zu befürchten, daß sich die Vereinten Nationen von diesem Gesichtsverlust nicht mehr erholen werden und somit als friedensstiftende Institution in der Zukunft ausgespielt haben.

Rußland ist wie Serbien ein Staat mit vielen Völkern

Rußland muß auch noch aus einem ganz anderen Grund eindeutig Stellung gegen die Handlungen der Nato beziehen. Es ist selbst ein Vielvölkerstaat. Was der Kosovo für Serbien ist, bedeuten Tschetschenien, Tatarstan und viele andere autonome Landesteile für Rußland. Es handelt sich um Minderheiten auf dem Territorium des eigenen Staates, die nur schwer unter Kontrolle zu halten sind. Indem die Nato Serbien aufgrund von Problemen in dessen eigener Provinz Kosovo bombardiert, mischt sie sich direkt in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates ein. Damit wurde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen. Konsequenterweise müßte die Nato dann auch Rußland bombardieren, wenn es zu neuen Unruhen in den russischen Provinzen Tschetschenien und Tatarstan kommt. Aber vielleicht bleibt die Nato inkonsequent. Sie war es auf dem Balkan schon einmal. Als sich die Kroaten vor wenigen Jahren in der Operation "Blitz" Ostslawonien zurückholten und dabei, quasi im Vorbeigehen, Hunderttausende von Serben vertrieben, hat sie Kroatien auch nicht bombardiert.

Von vielen überhaupt nicht bemerkt, ist der Krieg in Serbien einer der ersten Religionskriege moderner Prägung, wie er von führenden Philosophen für das neue Jahrhundert vorausgesagt wurde. Auf der einen Ebene stehen christliche Serben gegen mohammedanische Albaner. Auf der anderen Ebene stehen griechisch-orthodoxe Serben gegen laizistische Amerikaner.

Die Sinnfrage für den Krieg wird in Rußland weitaus tiefgründiger gestellt als in Westeuropa. Bei uns gilt als Dogma, daß durch die Luftschläge Milosevic selbstverständlich das Leid der Albaner beendet würde. Die Westmächte haben wirklich nichts aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt, als ihr Terror gegen die deutsche Zivilbevölkerung diese noch enger an Adolf Hitler und sein Regime band. Die ärmsten Sündenböcke sind zur Zeit die albanischen Kosovaren, auf die sich die Aggressionen der angegriffenen Serben nun mit besonderer Brutalität richten. Wirksam zu schützen sind diese armen Menschen, für die der Krieg laut Propaganda ja begonnen wurde, niemals durch Aktionen aus der Luft, sondern nur durch den konzentrierten Einsatz von Bodentruppen. Wenn die Berichterstattung des Pentagon auch nur annähernd ehrlich wäre, hätte man diese unangenehme Wahrheit von Anfang an deutlich machen müssen. Sollte die Nato diesen Schritt wirklich wagen, sind die Folgen unabsehbar: relativ klar ist noch, daß die Serben den Invasoren einen heißen Partisanentanz in den Schluchten des Balkan bereiten werden, der sich leicht zu einem neuen Vietnam oder Afghanistan auswachsen kann. Viel unkalkulierbarer wären die Folgen für Europa und die Welt. Übernimmt die Nato dauerhaft das Gewaltmonopol der UN? Schaut Europa weiterhin seiner Entmachtung durch die USA zu? Wie wird sich Rußland verhalten? Kommt es darüber zum Dritten Weltkrieg?

Hansjörg Müller ist für die deutsche Wirtschaft als Vertriebsleiter in Rußland und der GUS tätig.


 
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