© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Naturschutz: Über die Ursachen des Zustandes unserer Wälder
Raum schaffen für "edles Wild"
Rudolf Langhans

Die Bezeichnung "Wald" ist in Deutschland mit einem mythisch-mystischen Unterton belegt. Gleichzeitig glaubt jeder etwas von ihm zu verstehen und mitreden zu müssen, sei es bei Fragen zu einzelnen Pflanzen, sei es als Bestand, den wir als Forst bezeichnen.

In der angespannten Lage zwischen ökologischem Waldbau und Umweltschutz, zwischen Holzmassenertragsförderung und naturgemäßem Wirtschaftswald können wir heute ohne Forstwissenschaft nicht mehr auskommen. Mehr noch, die Forstwissenschaft muß mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zusammenarbeiten, will sie allen Anforderungen der Neuzeit gerecht werden. Denn Umweltschutz ist mehr als ein Versuch, das natürliche Gleichgewicht der Natur wiederherzustellen.

Der Wald ist seit Bestehen der Menschheit unser steter Begleiter. Heute sind fast 30 Prozent der Bundesrepublik Deutschland mit Wald bestockt. Urwald – im wahrsten Sinne des Wortes – gibt es bei uns aber schon lange nicht mehr. Zwar ist jeder Waldtyp eine Lebensgemeinschaft, die sich auch ohne Eingriff des Menschen ständig wandelt; der Mensch aber hat diesen Wandel unterbrochen, ihn nach seinem Nutzen zu formen versucht, um Holzmasse zu erzeugen oder ihn für seine Jagdgelüste umzugestalten. Es entstanden Waldbilder, die man nach ihrem Nutzungsziel Wirtschaftsformen nennt. Damit wurde auch das natürliche Verbreitungsgebiet zahlloser Pflanzenarten verwischt.

Wild wurde in "unnütz" und "nützlich" eingeteilt

Die Landschaftszerstörung durch Abbau des bis dahin natürlich gewachsenen Waldes begann bereits in der Antike. Es wurde Fläche für die Feldwirtschaft und Holz für den Bau der Dörfer und Städte benötigt. Später wurde zum Bau großer Flotten Holz überwiegend in westeuropäische Länder exportiert. Der sich entwickelnde Bergbau fraß besonders stattliche Bäume, da sie die erforderlichen Durchmesser für die Stempelstützen der Stollen besaßen. Damit wurde der natürlichen Verbreitung eine weitere Einschränkung aufgezwungen, weil die Samenträger fehlten. Die wachsende Bevölkerung und die durch die Vierfelderwirtschaft bedingte Struktur der Bauernhöfe ließ früh eine Waldweide als Zusatznahrung aufkommen. So erhöhte sich die Waldzerstörung zum Beispiel auch durch Verbiß der Jungtriebe.

Zum Wald gehört die Jagd. Belasteten schon die erwähnten Veränderungen, so gaben die im 16. Jahrhundert aufkommenden Parforcejagden einen erneuten Anstoß, die Lebensgemeinschaft "Wald" zu zerstören. Für diese Hetzjagden wurden ganze Wälder zu Parklandschaften umfunktioniert. Der große Wildbestand "jagdbarer Tiere" trug weiter zur Vernichtung des Baumbestandes bei. Das Wild wurde angefüttert, in Gattern gehalten, aber nicht nach biologischen Gesichtspunkten, sondern nach seiner Trophäe bejagt. Zudem wurde das Wild in "nützlich" oder "unnütz" eingeteilt. Gejagt wurde "edles Wild". Was nicht der Jagd diente, wurde rigoros ausgerottet. Dabei wurden regulierende Endglieder einer Nahrungskette vernichtet. Um 1627 trat der erste Totalverlust ein: der Ur- oder Auerochse starb in Europa aus. 1751 wurde im Kurfürstentum Sachsen der letzte Wolf erlegt, 1755 fällt der letzte Wisent in Ostpreußen durch Wildererhand, im Fichtelgebirge stirbt der letzte Braunbär. Langsam geriet die Ökologie durcheinander.

Mit dem Ausbau der Straßen und dem Bau der Eisenbahn nagte die Besiedelung weiter am Waldbestand. Lebensräume wurden für immer zerschnitten. Die Jagd mußte nun als regulierendes Endglied eingesetzt werden. Noch erkannte man nicht den Nutzen, den der Wald für seine Umwelt hatte. Gewinnstreben hatte Vorrang. Nur vereinzelt erhoben erste vorausschauende Mahner ihre Stimme dagegen. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Forstpflege in größerem Umfang beachtet. Doch noch immer wurde sich ohne Rücksicht auf die Umwelt nach den Wünschen der Holzförderer gerichtet: Holzmassenerzeugung blieb oberstes Gebot. Schnellwachsende Monokulturen erhielten den Vorzug. Trotz der damit abnehmenden Pflanzenarten stiegen die Verwendungsmöglichkeiten des Rohstoffes Holz steil an. Bald zeigten sich aber die ersten Fehler dieses Waldbaus, der die Wälder zu Holzfabriken degradiert hatte. Die Natur – auf nur noch wenige Arten Begleitflora und Fauna dezimiert – begann sich zu wehren. Stürme kippten ganze Waldflächen an einem Tag um. "Waldschädlinge" vernichteten riesige Flächen durch Kahlfraß, weil ihre natürlichen Feinde fehlten. Die natürliche Regulierung versagte, weil die Artenvielfalt fehlte, die den massenhaften Befall durch ein Lebewesen hätte begrenzen können.

Dank der Chemieindustrie wurden die "Schädlinge" nun mit Pestiziden vernichtet. Dabei wurden auch die wenigen noch vorhandenen natürlichen Helfer, die der Mensch als "Nutztiere" eingestuft hatte – wie Ameisen, Käferarten oder Vögel, um nur einige zu nennen – dezimiert. Die Verarmung durch Monokulturen und Landschaftszerstörung nahm rapide zu. Die "Rote Liste" wurde erfunden. Geholfen hat es den vom Aussterben bedrohten Tieren und Pflanzen kaum. Nicht viel anders erging es den entstandenen Landschaftsschutzgebieten. Oft wurden sie in ihrer Schutzwirkung stark gemindert: durch Wanderwege, Hütten- und Hotelbauten.

Mit der Industrialisierung setzte dann von außen eine Schädigung des Waldes ein, die man zuerst gar nicht erkannte. Der inzwischen flächendeckende Schaden – mit oft unterschiedlichen Krankheitsbildern – ließ sich nicht verheimlichen. Um 1976 tauchte der Begriff des "Waldsterbens" auf. Er ist Ausdruck für die Komplexität der Schädigung. Bei den einsetzenden weltweiten Untersuchungen traten mehr und mehr die Folgeschäden der bisherigen Wirtschaftsführung im Waldbau zutage, die – durch negative Einflüsse der Industrialisierung noch verstärkt – zu einer allgemeinen Gefahr für die Menschheit zu werden drohen. Die um die Jahrhundertwende beginnende Klimaveränderung trägt zusätzlich dazu bei, daß sich die Substanz der für den Menschen lebenswichtigen Grundlagen langsam verringert. Dabei ist es unerheblich, ob sie von der Natur hervorgerufen wird oder ausschließlich von Menschenhand herrührt. Ein Beispiel hierfür ist der Wasserhaushalt: Großflächiger Wald wirkt auf das Wetter ein. Er beeinflußt die Niederschlagstätigkeit in hohem Maße und bremst die Luftbewegungen. Damit wird die Verdunstung des Bodens herabgesetzt. Der Wald wirkt auf das lebenswichtige Naß des Himmels wie ein Schwamm. Er bestimmt entscheidend mit, wieviel und wo es im Boden gebunden wird, hält Niederschläge fest und gibt sie langsam wieder ab. Kommen jedoch ungünstige Bodenverhältnisse hinzu, die durch das Fehlen einer Walddecke noch verstärkt werden, kann Karst entstehen, der das Wasser nicht bindet, sondern sehr schnell abgibt. Kann sich dann keine schützende Pflanzendecke mehr halten, werden die Bodennährstoffe ausgeschwemmt, eine Vernichtung der Oberflächenstruktur ist vorprogrammiert, Muren- und Lawinenabhänge, wie sie sich in den letzten Jahren in den Alpen häuften, sind die Folge.

Eine Korrektur der Situation ist überfällig

Sie sind ein ganz besonderes Menetekel. Der Bannwald der Hochgebirgsregionen ist so stark erkrankt, daß er seine Schutzfunktion an zahlreichen Stellen der Alpentäler nicht mehr wahrnehmen kann. Hinzu kommt die oft starke Abholzung der darunter liegenden Hänge. Zunehmend deutlich wird: Der Bannwald hält den Regen und den Schnee nicht mehr ausreichend zurück und bindet mit seinem Wurzelgeflecht den Boden auch nicht genügend. Die einsetzende Erosion wird ihn vernichten. Wenn nicht bald eine fachlich qualifizierte Analyse der Probleme – gepaart mit rigoros durchgeführter Waldpflege – eingeleitet wird, ist es in einer Generation für eine Korrektur der verfahrenen Situation zu spät. Ob wir der Klimaveränderung damit Einhalt gebieten können, ist eine andere Frage.


 
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