© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen
Die Emanzipation des Konsums
Doris Neujahr

Für Herbert Marcuse, einen der geistigen Väter der "68er", zielte die Studentenrevolte auf eine "Kultur ohne Unterdrückung". Unter Bezug auf Schillers Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen schrieb er: "In einer wahrhaft menschlichen Kultur wird das Dasein viel mehr Spiel als Mühe sein, und der Mensch wird in der spielerischen Entfaltung statt im Mangel leben". Der italienische Filmemacher und Schriftsteller Pier Paolo Pasolini (1922–1975), Ex-Kommunist und nonkonformer Linker, hielt solche Prophezeihungen schon früh für illusorisch. Die Protagonisten der Studentenunruhen waren in seinen Augen gelangweilte Bürgersöhne, und zur allgemeinen Verblüffung schlug er sich auf die Seite der attackierten Polizei, "weil die Polizisten Söhne von armen Leuten sind". Pasolinis Ruhm gründet sich auf Bücher wie "Petrolio" und "Ragazzi di vita" und Filme wie "Teorema", "Medea" und "Die letzten 120 Tage von Sodom". In der "Decameron"-Verfilmung trat er in der Rolle des von ihm hochgeschätzten Malers Giotto auf. In seinen 1973 bis 1975 im konservativen Corriere della Sera veröffentlichten, legendären "Freibeuterschriften" bediente er sich dessen Methode aus entgegengesetzter Richtung. Hatte Giotto "die Kunst wiederentdeckt, auf einer flachen Ebene die Illusion räumlicher Tiefe zu erzeugen" (E. H. Gombrich), ging es Pasolini darum, die Eindimensionalität der sich pluralistisch gerierenden Gesellschaft nachzuweisen. Mit den "Freibeuterschriften" wurde er zum "Prediger des Geistes inmitten der gewalttätigen, technologischen Gesellschaft" (E. Sicilano). Sie sind jetzt in einer vollständigen revidierten Neuausgabe erschienen.

Pasolini nahm darin aktuelle Ereignisse zum Ausgangspunkt einer prinzipiellen Gesellschaftskritik. Er bilanzierte, daß der emanzipatorische Anspruch von "1968" in eine "Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft" umgeschlagen war. Die Etappen dieser Entwicklung beschrieb er im Aufsatz "Die Sprache der Haare", die er als Semiotiker zu entschlüsseln suchte. Lange Haare implizierten Mitte der sechziger Jahre eine "linke" Gesellschaftskritik, sie bedeuteten eine nonverbale Kriegserklärung an die Bürgerwelt, das Apostolat eines radikal "Neuen" gegen die Konsumgesellschaft. 1968 wurden sie von der Studentenbewegung vereinnahmt, popularisiert und schließlich zum bloßen Zubehör einer verbalen Radikalität degradiert. Anfang der siebziger Jahre hatten sie sich als Modetrend durchgesetzt und wurden auch in außereuropäischen Gesellschaften nachgeahmt. Für Pasolini war das ein Beispiel für den kolonialen Anspruch der westlichen Kulturindustrie. Damit waren die einstigen Rebellen vom Spießertum ihrer Väter eingeholt worden: "So drücken heute die langen Haare (…) jenes ‘Etwas’ aus, was Fernsehen und Werbung ausdrücken: eine Welt, in der ein Jugendlicher ohne lange Haare absolut unvorstellbar geworden ist und für die Interessen der Herrschenden geradezu skandalös wäre".

Die einstigen Freiheitsapostel sind von der Kulturindustrie absorbiert worden. Sie haben sich mit der geschenkten, repressiven Freiheit begnügt, mit der Freiheit, den Verlockungen der Kulturindustrie ungehindert zu folgen. Die induzierte Furcht, der offerierten Konsumfreiheit nicht genügen zu können, erzwingt die Anpassung an die Modeströmungen. Die vorgebliche Dauerrebellion gegen die "verkrusteten" Institutionen ist in Wahrheit nur noch Fiktion, ja sogar erwünscht, weil sie letzte tradierte und institutionalisierte Dämme gegen die Konsumideologie beseitigt: "Die neue bürgerliche Herrschaft braucht nämlich Konsumenten mit einer ausschließlich pragmatischen und hedonistischen Mentalität; denn der Zyklus von Produktion und Konsum vollzieht sich am reibungslosesten in einer technizistischen und rein irdischen Welt".

Ohne das Wort "Globalisierung" zu benutzen, beschrieb er das Phänomen, das es bezeichnet: Die Zerstörung regionaler und sozialer Bezüge, die den Einzelnen – vor allem den Unterprivilegierten – ihre Sprache, das Gefühl ihrer Würde und Lebenssinn geben. Durch die Nivellierung des sozialen und kulturellen Kontextes werden sie atomisiert und sinken ins Subproletariat ab.

Dieser Kulturrevolution von "links" war eine "rechte" – kapitalistische – vorausgegangen, die durch die Ansammlung technischer Neuerungen und die Revolutionierung der Infrastrukturen die traditionelle "Rechte" selber zerstört oder ausgehöhlt hat. Daher geht der fortgesetzte "linke" Kampf gegen "rechte" Traditionen ins Leere und führt zur Verschmelzung des Emanzipationsvokabulars mit den Marktbedürfnissen. Die Konsequenz ist die totale Verdinglichung der Gesetze der Konsumindustrie. Die Dualismen von "Links" und "Rechts" und von "Faschismus" und "Antifaschismus" sind demnach "reine Oberflächenphänomene, unter denen sich eine andere, epochale Umwälzung vollzieht, die ‘links’ und ‘rechts’ gleichermaßen erfaßt" (P. Kammerer).

Pasolini bezeichnete die "Kultur der Konsumzivilisation" als den "neuen und repressivsten Totalitarismus, den man je gekannt hat". Zwanzig Jahre danach griff Botho Strauß diesen Topos im "Bocksgesang" auf: "Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte". Für Pasolini führte die institutionalisierte Synthese aus Konsumindustrie und Emanzipationsrhetorik in einen gesellschaftspolitischen Widerspruch, der bei jungen Menschen den Extremismus als einzige Alternative erscheinen läßt. In diesem Sinne beschrieb er die jungen Faschisten – und das in einer Zeit, als Italien von blutigen Bombenattentaten erschüttert wurde! – als Produkt einer "links-rechten" Kultur, die "in ihnen einen unerträglichen Zustand von Konformismus und Neurose – und folglich Extremismus" erzeugt. Von hier aus kann man auch die kryptischen Verse deuten, mit denen sich Heiner Müller 1994 angesichts brennender Ausländerhäuser vernehmen ließ über die "Brandstifter von heute (…)/Verfallen einem Traum der einsam macht/Im Kreisverkehr der Ware mit der Ware…".

Auch Pasolini ging – streng marxistisch – vom Primat der Ökonomie aus. Rudimente eines sonst überwundenen kommunistischen Dogmatismus finden sich in beiläufigen Bemerkungen über die sowjetische Gesellschaft, die den Fetischcharakter der Waren durchbrochen habe, weshalb die körperlich-mimetische Sprache der Sowjetbürger schön sei und Westeuropäer begeistere. Doch längst war er ein, im Wortsinne, ent-täuschter Marxist, der die dem Marxismus implizite, religiös grundierte Erlösungshoffnung auf ein "Reich der Freiheit" aufgegeben hatte. Gleichzeitig hielt er beinahe starr an dessen Theoremen und Terminologie fest. Mit der weitreichenden Folge, daß seine erhellenden Gesellschaftsanalysen immer wieder in partiellen Nihilismus einmündeten.

Eine kritische Rezeption der "Freibeuterschriften" würde bedeuten, Pasolinis Aussagen im Lichte neuer Erfahrungen zu differenzieren und beispielsweise treffgenau nachzuweisen, von welchem Punkt an der Gebrauch neugewonnener Freiheit zu schierem Opportunismus wird, und wo andererseits der Mut zur Verweigerung aufhört und die Angst vor der Freiheit anfängt. Primäres Ziel hätte statt eines erneuten, großangelegten gesellschaftlichen und ökonomischen Alternativentwurfs die Behauptung eines essentiell Menschlichen zu sein, das sich dem Zugriff der Vergesellschaftung, der ökonomischen Verwertung und medialer Verfremdung entzieht.

 

Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Hrsg. v. Peter Kammerer, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, 172 Seiten, kart., 19,80 Mark


 
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