© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/99 30. April 1999


Erster Weltkrieg: Der britische Historiker Niall Ferguson sorgt mit seinen Thesen für Aufsehen
Der falsche Krieg
Ronald Gläser

Um die Kernthese gleich vorwegzunehmen: Niall Ferguson vertritt in seinem Buch "Der falsche Krieg" die Auffassung, daß Großbritannien mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg einen fundamentalen Fehler begangen habe. Millionenfaches Leid, zehn Millionen Tote und Verstümmelte, wirtschaftlicher Niedergang, Inflation, Deflation, Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt Kommunismus sowie Nationalsozialismus wären Europa und der Welt erspart geblieben, hätte die britische Regierung nicht 1914 Deutschland den Krieg erklärt. Schon vor 80 Jahren wäre – nach einem deutschen Sieg – ein multinationales Gebilde entstanden, das weitgehend unter deutscher Vorherrschaft gestanden hätte, so wie das in der EU heute der Fall sei. Aber das Empire wäre nicht aufgrund zweier Weltkriege verstümmelt worden, so daß es heute ein Gegengewicht zur Hegemonialmacht Deutschland darstellen würde.

Am Dienstag stellte er sein Buch erstmals in Deutschland vor. Prägnanterweise tat er das in dem unlängst zum neuen Regierungssitz gekürten Berlin. Niall Ferguson kann zu Recht als die schottische Anwort auf Daniel Goldhagens verquere Thesen gesehen werden. Vor rund 400 Zuhörren in der Humboldt-Universität verteidigte Ferguson seine Thesen, die er in zwölf Kapiteln anschaulich zusammengefaßt hat. Und er widmet sich dabei sowohl den Ursachen als auch dem Verlauf des Krieges in Form eines internationalen Vergleichs, der auch interdisziplinär ist, denn er untersucht nicht nur politische, sondern auch militärische, kulturelle und wirtschaftliche Aspekte des Großen Krieges. Er entkräftet dabei fast alle gängigen Argumente, die den Vorwurf einer deutschen Allein- oder Hauptschuld am Krieg rechtfertigen.

Noch heute werden alte Argumente nachgebetet

Da ist zunächst der deutsche, bzw. preußische Militarismus, der eine der entscheidenden Grundlagen für den Krieg gewesen sein soll. Zwar gab es den Wehrverein, den Flottenverein und den Alldeutschen Verband, aber ähnliche Tendenzen waren in England und Frankreich genauso zu beobachten. Und der Antisemitismus war zweifelsohne im Frankreich der Jahrhundertwende weitaus größer, als das in Deutschland der Fall gewesen ist. Schließlich habe es auf den Britischen Inseln auch eine mitgliederstarke "National Service League" gegeben, die die Einführung der Wehrpflicht propagierte. Insgesamt aber sei genau das Gegenteil der Fall gewesen: Der Militarismus sei nämlich bereits auf dem Rückzug befindlich, der Pazifismus am Erstarken gewesen. So habe die Liberale Partei in England die Wahlen mit einem Programm zur Senkung der Rüstungsausgaben gewonnen. Und in Deutschland sei schließlich die SPD, "deren Führer zu den schärfsten Kritikern des Militarismus in Europa zählten", 1912 mit fast 35% der Stimmen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen. Noch heute beteten Historiker "papageienhaft" die falschen Argumente von damals nach, bedauert Ferguson.

Auch sei in England die geradezu paranoide Angst vor einem Krieg mit Deutschland viel zu groß gewesen, als eine realistische Einschätzung der Lage zugelassen hätte. So kursierten seit der Jahrhundertwende etliche Bücher, deren Inhalt eine fiktive (da nie ernsthaft erwogene) deutsche Invasion mit Hilfe eines Heeres deutscher Spione darstellt. "Die Invasion von 1910" und "When England Slept" seien hier nur beispielhaft für andere erwähnt.

Vor dem Hintergrund des Imperialismus und seiner großen Kolonialmächte analysiert Ferguson die Rolle der damaligen Großmächte der Welt. Er kommt zu dem Schluß, daß Großbritannien nicht wegen der Schwäche von Rußland und Frankreich, sondern wegen der Schwäche Deutschlands zugunsten der Entente Partei ergriffen habe, weil die Briten "erkannten, daß von Deutschland eine derartige Bedrohung nicht ausging". Eigentlich seien diese drei (Großbritannien, Frankreich, Rußland) die "großen Rivalen dieser Zeit" gewesen. Ein Konflikt mit einer der anderen großen Kolonialmächte habe viel näher gelegen als einer mit einem Staat, der erst Kolonialmacht werden wolle. Deshalb wäre ein deutsch-englisches Bündnis als Gegengewicht gegen die französisch-russische Allianz die bessere Lösung gewesen. Deutschland aber hätte England kaum brauchbare Zugeständnisse machen können. Die britische Regierung jedoch wollte Zugeständnisse wie die Anerkennung der Herrschaft über Ägypten von Frankreich oder aber Einigung über Persien mit den Russen. Daß die Briten zu Zugeständnissen an eine weitere mächtige und teilweise aggressive Macht bereit gewesen waren, zeige auch ihr Verhältnis zu den USA, die weit weniger friedfertig aufgetreten seien: "Die britische Außenpolitik von 1900 bis 1906 diente also der Beschwichtigung jener Mächte, die die größte Bedrohung Großbritanniens darzustellen schienen, und dies geschah selbst um den Preis guter Beziehungen zu weniger wichtigen Mächten."

Andererseits dürften die Versuche einer deutsch-englischen Einigung nicht a priori wegen ihres Scheiterns ignoriert werden. Der Tausch Sansibar-Helgoland, die gemeinsame Intervention in Venezuela 1902/03 oder die gute Zusammenarbeit in China hätten Ansatzpunkte für ein deutsch-englisches Bündnis geboten.

Nach der Bereinigung der französisch-britischen Spannungen aber habe Außenminister Grey mit geheimen Verhandlungen über eine gemeinsame militärische Strategie gegen Deutschland begonnen. Dabei sei es auch immer wieder um die Frage Belgiens gegangen. Die Argumentation von 1914, Großbritannien sei wegen der Verletzung der belgischen Neutralität in den Krieg eingetreten, bezeichnet Ferguson als "zynisch". Seitens des britischen Generalstabs hätte ebenso der Plan bestanden, Belgiens zu besetzen.

Auch der deutsche Flottenbau habe nicht die Ursache des Ersten Weltkrieges für Großbritannien dargestellt, wie immer vermutet würde. Dazu sei der britische Sieg im Flottenwettrüsten zu augenscheinlich, so der schottische Historiker. Überhaupt sei weder das deutsche noch das österreichisch-ungarische Militärbudget unangemessen groß gewesen. Pro Kopf habe Deutschland 1913 für die Verteidigung 28 Mark ausgegeben, verglichen mit 31 Mark in Frankreich und 32 Mark in Großbritannien. Auch gemessen an den Gesamtausgaben der öffentlichen Hand lag Deutschland hinter den zukünftigen Gegnern. Gemessen am Nettosozialprodukt schließlich lagen Frankreich mit 4,8 Prozent und Rußland mit 5,1 Prozent weit vor Großbritannien (3,2 Prozent), Deutschland (3,9 Prozent) und Österreich-Ungarn (2 Prozent).

Den Kriegsausbruch schließlich identifiziert Ferguson dann schon als eine Kurzschlußhandlung der deutschen Regierung, die er unter anderem auf die eindeutige militärische Unterlegenheit zurückführt. Der Schlieffenplan, der eine schnelle Niederwerfung Frankreichs vorsah, um sich anschließend den Russen zuwenden zu können, basiere auf Deutschlands Schwäche, nicht auf seiner Stärke. Durch diesen Plan sollte der drohende Zweifrontenkrieg ja in zwei zeitlich getrennte Kriege aufgespalten werden. Ein besser gerüstetes Deutschland hätte einen solches Vabanquespiel gar nicht nötig gehabt. Gleichwohl sei der Plan schlecht vorbereitet gewesen, weshalb er auch gescheitert sei.

Ein Kriegsende, begleitet von organisierter Heuchelei

Alsdann wendet er den Blick auf den Kriegsverlauf und beweist zum einen, daß die deutsche Kriegswirtschaft besser als ihr Ruf gewesen war. Zum anderen führt er aus, wieviel erfolgreicher die Mittelmächte im vierjährigen Ringen gewesen seien. 4,5mal größer war die Bevölkerung der Entente, ihre wirtschaftliche Überlegenheit stand außer Frage. Dennoch töteten die Soldaten der Mittelmächte rund 35 Prozent mehr Gegner, als sie selbst verloren. Und sie machten rund 25 Prozent mehr Gefangene. Pro getöteten Gegner wandten die Mittelmächte "nur" 11.345 Dollar auf, während jeder gefallene Soldat auf ihrer Seite die Entente rein rechnerisch mehr als das Dreifache kostete.

Das Kriegsende sieht Ferguson begleitet von "organisierter Heuchelei". In seinen 18 Punkten habe Wilson das Selbstbestimmungsrecht zum zentralen Punkt gemacht. Daß es für Deutsche nicht gelten solle, verschwieg er dabei. 13 Prozent des deutschen Volkes lebte nach 1918 außerhalb seiner Staatsgrenzen (ohne Wolgadeutsche). Und Österreich habe man den Anschluß auch versagt.

Ein Viertel der Schotten, die im Krieg gedient hätten, seien gefallen. Daher ist es für Ferguson, der von der britischen Politik schwer enttäuscht ist, auch ein sehr persönliches Buch. Wie deutsche Historiker auf seinen Beitrag zur Neubewertung von Ursachen und Verlauf des "vergessenen Krieges" reagieren, dessen Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte nicht hoch genug eingeschätzt werden können, bleibt abzuwarten.

Die namhaften Historiker Wolfgang Mommsen und Heinrich August Winkler, die an der Buchvorstellung in Berlin teilnahmen, lieferten erwartungsgemäß die bekannte Selbstkasteiung in nationalen Fragestellungen: Für Mommsen ist das Buch "ganz besonders problematisch, weil es einer Argumentation Vorschub leistet, die wir aus den Köpfen vieler Nationalisten gerade erfolgreich ausgetrieben haben".

Allerdings, so Mommsen, sei ein Teil der Irritationen auf die ungenaue Übersetzung aus dem Englischen zurückzuführen. Diesen Vorwurf weist der ebenfalls anwesende Übersetzer empört von sich. Klaus Kochmann ist ein erfahrener Übersetzer. Er ist es auch gewesen, der Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" aus dem Englischen übersetzt hat.

Winkler lobte zwar den Mut, über britische Kriegsverbrechen zu berichten, was bei unseren eigenen Kriegsverbrechen ja zur Tagesordnung gehört. Andererseits bemängelt er, daß die aufgeführten britischen Handlungsalternativen nicht überzeugten. Und er berichtet, daß es ab 1912 in Deutschland eine "förmliche Explosion von publizistischem Chauvinismus, Nationalismus und Militarismus gegeben" habe.

Selbst als Ferguson erklärt, daß er nicht die Position größenwahnsinniger Deutscher wiedergeben will, sondern vielmehr in der Argumentation der britischen Pazifisten verwurzelt sei, kann seine deutschen Gesprächspartner nicht überzeugen. Und selbst das vielleicht wichtigste Argument der Thesen lassen seine Kontrahenten nicht gelten: Nicht nur, daß Rußland und den Staaten Osteuropas die "Schrecken des Bolschewismus" erspart geblieben wären, sondern auch Adolf Hitler hätte "sein Leben wohl als mittelmäßiger Postkartenmaler oder bescheidener alter Soldat in einem von Deutschland beherrschten Mitteleuropa beendet".


 
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