© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Balkankrise: Ursache sind Nationalitätenkonflikte
Irrtum des Westens
Alain de Benoist

In dem abscheulichen Krieg, der sich auf dem Balkan abspielt, in diesem ungeheuer ungleichen Kampf – der Preis eines amerikanischen B-2-Bombers entspricht dem Bruttosozialprodukt Albaniens! –, aus dem die Medien die neueste Episode des ewigen Kampfes der Kräfte des Guten gegen das Reich des Bösen gemacht haben, in diesem Konflikt ist die Wahrheit wie üblich das erste Opfer. Und weil dieser Konflikt zugleich ein Krieg der Bilder und der Worte ist, sollte man dem Vokabular Aufmerksamkeit schenken, das dabei verwendet wird.

Wenn paramilitärische serbische Truppen sich an den Kosovaren für Ausschreitungen rächen, die die serbischen Minderheiten über Jahre hinweg erleiden mußten, sind das "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Wenn die Nato Flüchtlinge oder Zivilisten, Schulen oder Bürogebäude bombardiert, sind das "Kollateralschäden", eine unglaublich verachtungsvolle Formulierung – "kollateral" bedeutet nebensächlich, unwichtig, ein "Detail" gewissermaßen –, die im Klartext aussagt: "Es ist besser, 100 unschuldige Zivilisten zu töten, als das Leben eines einzigen amerikanischen Soldaten aufs Spiel zu setzen."

Frankreich seinerseits erkennt vollmundig die Existenz eines "kosovarischen Volkes" an, nicht aber die eines "korsischen" oder "bretonischen Volkes". Es wird völlig vergessen, daß – wäre die Doktrin des Einmischungsrechts zu Beginn der 60er Jahre in Kraft gewesen – die USA ohne weiteres Paris hätten bombardieren können, um den algerischen Aufstand zu unterstützen. Denn die Europäer bildeten in Algerien eine Minderheit, was Paris aber nicht daran hinderte, es als "französischen Boden" anzusehen und der UNO, die sich für die Unabhängigkeit aussprach, zu erwidern, Frankreich sei Herr auf seinem Staatsgebiet.

Man beachte auch, daß diejenigen, die momentan behaupten, die Kosovaren seien "von der Abstammung her" Albaner, dieselben sind, die sich darüber empören, daß jemand "von der Abstammung her" Franzose sein könnte. So versteht es sich von selbst, daß ein gerade erst eingebürgerter Nordafrikaner ein "Franzose wie alle anderen" ist, während die Kosovaren, die oft schon seit Generationen die jugoslawische Staatsangehörigkeit haben, "Kosovo-Albaner" bleiben.

In bewährter amerikanischer Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte behauptet Bill Clinton, daß in dem derzeitigen Konflikt "Demokraten" einem "Diktator" gegenüberstehen. Daraus schließt er, daß sich die Probleme wie von Zauberhand lösen werden, sobald auf dem Balkan die "Demokratie" wiederhergestellt ist. Er könnte kaum weiter von der Realität entfernt sein. Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ist keine Frage der Demokratie (oder des "Übergangs zur Demokratie"), sondern eine Nationalitätenfrage. Er ist keine Angelegenheit politischer Überzeugungen, sondern der geschichtlichen Erfahrungen, der Sprache und der Religion. Er konfrontiert Völker, die seit Jahrhunderten widerwillig ihre Territorien miteinander teilen müssen. So glauben Serben – zu Recht oder zu Unrecht –, daß die Aufgabe der Klöster im Kosovo einem zweiten Sieg der Ottomanen 700 Jahre nach dem ersten gleichkäme.

Ständig wird wiederholt, daß Milosevic an allem schuld sei – als meinte man, ohne ihn würde wieder alles möglich werden. Genau da liegt der Irrtum. Die Balkankrise hat ihren Ursprung nicht in einem einzelnen Mann, genausowenig wie in einer Überzeugung oder einem Regime. Eine Ausschaltung Milosevics würde nichts an den tieferen Ursachen des Krieges ändern.

Daß die Westeuropäer die Situation auf dem Balkan nicht besser verstehen, liegt daran, daß sie aufgrund ihrer eigenen geschichtlichen Erfahrung mit den Kategorien des Nationalstaats argumentieren, also mit einer Einheit von Volk, Territorium, Sprache, Religion und Staat. Jedoch ist der Nationalstaatsgedanke auf dem Balkan unbrauchbar. Nach der Auflösung der Großreiche erwiesen sich dort nur multinationale Staaten als durchsetzungsfähig: politische Einheiten, in denen die Nation und der Staat, die Nationalität (kulturell und rechtlich) und die Staatsbürgerschaft (politisch) klar voneinander getrennt sind. Mit anderen Worten: Auf dem Balkan läßt sich das Dilemma zwischen Selbstbestimmungsrecht der Völker und politischer Vereinigung nur föderalistisch lösen.

Was die "ethnischen Säuberungen" betrifft, unter denen heute die Kosovo-Albaner und gestern die Serben in Bosnien und der Krajina litten, so macht sich auch hier ein Gesinnungswandel bemerkbar. Daß man sich darüber empört, ist gut, wenn eine solche Empörung auch relativ neu ist: die "ethnische Säuberung" von 15 Millionen deutschen Flüchtlingen aus dem Sudetenland und den Ostgebieten, die drei Millionen Toten auf dem Weg ins Exil verursachen auch im Rückblick keinerlei Betroffenheit.

Man sollte sich nichts vormachen: Die westlichen Machthaber beklagen die "Geißel des Nationalismus", tun aber ihrerseits alles, um nationalen und ethnischen Haß zu schüren. Die Brücken, die die Nato-Flugzeuge systematisch zerstören, haben Symbolcharakter: jegliche Chance einer friedlichen Zusammenlebens der Balkanvölker läuft Gefahr, mit ihnen zerstört zu werden.

 

Alain de Benoist ist Herausgeber der "Nouvelle École" und einer der Vordenker der französischen Neuen Rechten.


 
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