© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Krieg in Jugoslawien: Das Massaker von Racak als Schlüsselereignis zur Eskalation
Opfer wurden instrumentalisiert
Michael Wiesberg

Mitte April publizierten zwei der einflußreichsten US-amerikanischen Zeitungen, die Washington Post und die New York Times, umfangreiche Artikel, die Aufschluß darüber geben, wann innerhalb der Regierung Clinton der Entschluß gefaßt wurde, mit militärischen Mitteln gegen Jugoslawien vorzugehen. Beide Artikel zeigen, daß ein Kurswechsel innerhalb der amerikanischen Politik – und nicht eine Maßnahme oder Entscheidung des Belgrader Regimes – den Krieg ausgelöst hat.

Das Frühjahr 1998 war zunächst durch eine Offensive der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) gekennzeichnet, der eine Gegenoffensive serbischer Militär- und Polizeieinheiten im Sommer des Jahres folgte. Im Oktober gelang es schließlich dem US-Beauftragten Holbrooke, einen vorübergehenden Waffenstillstand zu vermitteln. Dieser Waffenstillstand brachte indes nicht das Ende der Kampfhandlungen mit sich. Er reduzierte nur den Grad der Intensität der Kämpfe. Sowohl die jugoslawischen als auch die Guerilla-Einheiten der UÇK nutzten diesen Zeitraum zur Vorbereitung weiterer Kampfhandlungen.

Das ganze Jahr 1998 hindurch wandte die Clinton-Regierung gegenüber Milosevic in erster Linie ökonomische Maßnahmen, militärische Drohungen oder politischen Druck an, um zu einer Vereinbarung über das Kosovo-Problem zu kommen.

Die entscheidende Wende in der amerikanischen Politik gegenüber Belgrad brachte laut Washington Post und New York Times das Massaker von Racak am 15. Januar 1999. Serbische Einheiten sollen an diesem Tag 45 albanische Zivilisten ermordet haben. Nach den Ausführungen der Washington Post forderte US-Außenministerin Madeleine Albright als unmittelbare Reaktion (noch vergeblich) eine Kampagne, die ein wesentlich umfassenderes Engagement der Nato bzw. der USA im Kosovo vorbereiten sollte.

Vier Tage später trafen sich die Spitzenvertreter der Regierung Clinton im Weißen Haus, um einen neuen Plan für das Kosovo zu prüfen, der von Außenministerin Albright ausgearbeitet wurde. Die New York Times  bemerkt sinngemäß zu diesem Plan: Milosevic sollte erneut ein Bombardement angedroht werden, falls er nicht auf die westlichen Forderungen eingehen sollte. Zum ersten Mal wurde Milosevic allerdings darüber hinaus aufgefordert, einer Intervention seitens der Nato in seinem Land zuzustimmen. Durch die Präsenz von Nato-Truppen sollte eine Vereinbarung erzwungen werden, die zum einen den Abzug der jugoslawischen Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zum Inhalt haben und zum anderen dem Kosovo eine weitgehende Autonomie zuerkennen sollte.

Zusammenfassend stellt die Washington Post fest: Eine Rekonstruktion der Entscheidungsfindung in Washington und Brüssel, dem Nato-Hauptquartier, lasse die Schlußfolgerung zu, daß das Massaker von Racak die westliche Balkan-Politik in einem Maße verändert habe, wie es bei singulären Ereignissen sonst selten der Fall sei. Diese Wende der amerikanischen Politik muß vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Ereignisse in Racak alles andere als geklärt sind, nachhaltig irritieren.

Der erste US-Vertreter, der in Racak erschien, war William Walker, Chef der OSZE-Beobachtermission im Kosovo. Dieser sprach ohne weitere Umschweife davon, daß die Toten Opfer eines serbischen Massakers seien. Die serbische Regierung behauptete, daß das Massaker von der UÇK inszeniert worden sei, um eine Intervention der Nato oder der USA zu provozieren. Walker wurde von Belgrad aufgrund seiner Behauptungen zur persona non grata erklärt und des Landes verwiesen. Der serbische Präsident Milutinovic erklärte, Walker verhalte sich nicht wie ein Vertreter einer internationalen Organisation, sondern handle wie ein Vertreter und Schutzherr des Separatismus und Terrorismus. Walker habe "die ordentliche Untersuchung des Massakers von Racak durch die jugoslawischen Behörden behindert", so wird Milutinovic weiter in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) vom 18. Januar dieses Jahres zitiert, "um seine eigene Version der Ereignisse zu verbreiten, mit falschen Tatsachen und unbegründeten Anschuldigungen gegen die Serben".

Dazu stellt die NZZ fest: "Was stimmt, ist, daß Walker von Anfang an erklärte, er wolle sein Mandat so extensiv wie möglich auslegen. Amerikanische Diplomaten machten kein Hehl aus ihrer Absicht, vom Kosovo aus die Herrschaft Milosevics zu destabilisieren. Unter dem Mantel der OSZE sollte nicht nur der Krieg im Kosovo eingedämmt, sondern darüber hinaus die Demokratisierung Serbiens forciert werden."

Diese Sichtweise läßt zumindest die Möglichkeit zu, daß die serbische Interpretation der Ereignisse von Racak keineswegs nur Propaganda ist, gibt es doch im Hinblick auf die angebliche Greueltat eine Reihe von Ungereimtheiten. Ursprünglich war davon die Rede, daß die Opfer von serbischen Maschinengewehren niedergemäht worden seien. US-Präsident Clinton verbreitete diese Version wiederholt in Reden, die die Bombardierung Jugoslawiens verteidigten. Spätere Berichte über Racak aber – wie zum Beispiel in der Washington Post und New York Times – kolportieren, daß die Opfer durch Genickschuß exekutiert worden seien.

Es ist daher so abwegig nicht, daß die UÇK selbst entscheidend zur bisher gängigen Version der Greueltaten in Racak beigetragen hat. Daß deren Strategie darauf ausgerichtet war und ist, einen hinreichenden Grund für eine US- oder Nato-Intervention zu schaffen, ist unterdessen kein Geheimnis mehr.

Von wesentlicher Bedeutung für die bis heute vorherrschende Sichtweise der Ereignisse von Racak ist der Chef der OSZE-Kommission, William Walker, auf den die Behauptung, es habe in Racak ein Massenmord stattgefunden, maßgeblich zurückgeht. Am selben Tag, dies sei an dieser Stelle nur nebenbei erwähnt, fand auch ein Feuerüberfall von UÇK-Guerillas auf einen britischen OSZE-Beobachter und dessen serbische Begleiteskorte statt, bei dem der Beobachter und sein serbischer Übersetzer verwundet wurden.

Bemerkenswert ist weiter, daß sich an der Seite der Polizeieinheit, die in Racak operierte, OSZE-Beobachter und TV-Reporter befanden. Der Einsatz in Racak wurde in der Absicht unternommen, die dort vermuteten Mörder serbischer Polizisten aufzuspüren. Als die serbischen Einheiten in das befestigte Dorf eindrangen, eröffnete die UÇK sofort das Feuer. Das Feuergefecht endete mit dem Rückzug der serbischen Einheiten am Spätnachmittag. Hunderte von Dorfbewohnern wurden während der Kämpfe aus Racak evakuiert.

Der Großteil der Toten befand sich am Ende der Feuergefechte in einem Gebiet, das von der UÇK kontrolliert wurde. Diese eskortierte am Morgen des 16. Januar Walker und einen Medientroß an einen Ort, an dem 22 Tote lagen, die den Anschein einer Massenexekution vermittelten. Zur Reaktion von Walker vermerkte die gewiß nicht serbenfreundliche französische Zeitung Le Monde am 21. Januar dieses Jahres sinngemäß: Die Verdammung (der jugoslawischen Einheiten) durch Walker war total und unwiderruflich. Dennoch blieben Fragen offen. Wie hätten es die serbischen Einheiten geschafft, eine Gruppe von Kosovo-Albanern zusammenzutreiben und diese in aller Ruhe zu exekutieren, während sie ununterbrochen von UÇK-Guerillas beschossen wurden? Warum fanden sich so wenig Geschoßhülsen bei den Toten, die angeblich durch mehrere Schüsse in den Kopf getötet wurden? Wäre es nicht möglich, daß die Gefallenen der UÇK, die im Kampf mit den serbischen Polizeieinheiten umgekommen sind, in einem Graben gesammelt worden seien, um eine entsprechende Empörung der öffentlichen Meinung zu provozieren?

Die französische Zeitung Le Figaro schrieb dazu am 20. Januar dieses Jahres zusammengefaßt: Der verwirrendste Aspekt im Zusammenhang mit dem Massaker von Racak sei, daß sich der Film, den TV-Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) über den Polizeieinsatz drehten, radikal von der Version Walkers unterscheide. Aus sicherer Distanz konnten die Journalisten wahrnehmen, daß die von serbischen Einheiten eingekreisten UÇK-Guerillas verzweifelt versucht haben, aus dem Kessel auszubrechen. Ein Teil war bei diesem Versuch erfolgreich, weil deren Ausbruch durch die Polizeieinheiten zugelassen wurde. Was geschah wirklich? Könnten die UÇK-Guerillas, so Le Figaro, nicht die durch serbische Kugeln getöteten Kameraden während der Nacht zusammengetragen haben, um ein Massaker zu inszenieren? Im weiteren verweist Le Figaro ebenfalls auf die fehlenden Geschoßhülsen bei den Leichen.

Was die Person Walkers angeht, sind die Ausführungen des amerikanischen Journalisten Don North aufschlußreich. North befand sich zu einem Zeitpunkt in El Salvador (1989), als Walker dort US-Botschafter war. Am 16. November 1989 fand in El Salvador ein furchtbares Gemetzel statt, das durch die Medien ging. AP berichtete darüber am 5. Dezember 1989: Soldaten des berüchtigten Atlacatl-Bataillions ermordeten sechs jesuitische Priester, einen Hausangestellten und dessen 15jährige Tochter. Die Soldaten drückten ihre Opfer zu Boden und exekutierten diese aus nächster Entfernung, so daß ihnen buchstäblich das Gehirn zerplatzte. Die Indizien, die zusammengetragen wurden, deuteten auf das Oberkommando der elsalvadorianischen Armee als Drahtzieher der Morde.

Walker aber verteidigte den damaligen Generalstabschef Ponce, einen Günstling der US-Regierung. Er tat dieses Verbrecken wörtlich mit dem Hinweis auf "Kontrollprobleme" ab. Auf die Frage nach der Unterdrückung von Dissidenten in El Salvador antwortete Walker, daß er diese keineswegs entschuldige. Weiter sagte Walker: Aber in Zeiten wie diesen, die durch gewaltige Emotionen und Aggressionen gekennzeichnet seien, könnten diese Dinge geschehen.

Noch aufschlußreicher sind die Bemerkungen, die die Washington Post am 21. März 1993 über Walker kolportierte. Dort wird Walker im Zusammenhang mit den Jesuitenmord mit der Bemerkung zitiert: Jeder könne sich Uniformen beschaffen. Die Tatsache, daß die Mörder (der Jesuiten, d.V.) Uniformen getragen hätten, beweise noch nicht, daß sie wirklich Soldaten waren.

In Racak zeigte Walker keinerlei Bedenken dieser Art. Die Vermutung liegt deshalb nahe, daß Walker in den Kosovo geschickt wurde, um den casus belli zu schaffen. Ein Grund für den Willen zum Krieg seitens der Amerikaner könnte ein Treffen des Führers der Kosovo-Albaner, Rugova, mit Clinton und Al Gore am 27. Mai 1998 gewesen sein, auf das die New York Times vom 18. April dieses Jahres näher eingeht. Rugova warnte im Rahmen dieses Treffens, daß es ohne eine amerikanische Intervention im Kosovo zu einem großen Konflikt auf dem Balkan kommen könne. Daß die Amerikaner einen derartigen Konflikt vermeiden wollten, weil sie ihre strategischen Interessen in Südosteuropa bedroht sahen, versteht sich von selbst.

Die Washington Post berichtet, Clinton sei sich der Tatsache bewußt gewsen, daß die europäischen Nato-Partner davon überzeugt waren, daß die UÇK mindestens ebenso viel zur Eskalation der Gewalt beitrug wie Belgrad. Nach Racak aber wurde der moralische Druck auf die europäischen Nato-Partner so groß, daß sie sich einem Ultimatum an Belgrad nicht länger verschließen konnten und wohl auch wollten.

In dieser Phase spielte die amerikanische Außenministerin Albright eine exponierte Rolle. Diese brachte ihr außenpolitisches Credo einmal wie folgt auf den Punkt: "Wir (die USA, d.V.) haben die Autorität, die Mittel und den Willen, militärische Gewalt anzuwenden, wann immer dies erforderlich ist" (zitiert in: Military Technology 3/98). Albright verbrachte nach Angaben der Washington Post die letzte Woche im Januar damit, die Drohung der Nato in Richtung Milosevic entsprechend zu orchestrieren. Den Mitgliedern der Balkan-Kontaktgruppe, insbesondere aber Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien, dekretierte Frau Albright nach Informationen der Washington Post, daß sie einem Treffen der Gruppe nicht mehr zustimmen würde, wenn die europäischen Mitglieder nicht bereit seien, ein Ultimatum gegen Serbien mitzutragen. Daß vor diesem Hintergrund die Verhandlungen von Rambouillet zum Scheitern verurteilt waren, kann bei dieser Ausgangslange nicht mehr weiter verwundern.


 
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