© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Pankraz,
die trotzige Nato und das verlorene Gesicht

Viel ist jetzt vom Gesichtverlieren die Rede. Die Nato, sagen die Strategen, habe sich verschätzt bei ihrem Kalkül, sie könne durch Bomben auf Serbien die Kosovo-Albaner vor Vertreibung schützen. Sie müsse aber trotzdem mit dem Bambardieren immer weiter fortfahren, weil sie sonst "das Gesicht verlieren" würde. Und das wäre eine Katastrophe.

Wieso eigentlich? fragt Pankraz dagegen. Wenn sich eine Strategie als falsch erweist, muß man sie so schnell wie möglich ändern, das ist doch die schlichte Selbstverständlichkeit. Was wäre denn von einem Arzt zu halten, der einen Patienten trotz besserer Einsicht mit einem falschen Medikament zu Tode kuriert, nur um nicht sein Gesicht zu verlieren? Was von einem Brunnenbauer, der unentwegt in die falsche Richtung bohrt, obwohl er längst weiß, daß er so nie auf Wasser stoßen wird? Muß man denn ein Narr werden, um sein "Gesicht" zu behalten?

Was heißt überhaupt "Gesicht" in dem betreffenden Zusammenhang? Einen Irrtum zu begehen, mag fatal sein, aber das "Gesicht" kostet so etwas noch lange nicht. Sehr viel desavouierender ist es, an einem erkannten Irrtum stur festzuhalten und die damit verbundenen Bürden ins Unermeßliche aufzutürmen.

Im alten China, wo man den größten Wert auf die Wahrung des Gesichts legte, wäre es keinem Familienangehörigen je eingefallen, an der grundsätzlichen Autorität des Patriarchen zu zweifeln, nur weil er sich einmal geirrt hatte. Autorität, "Gesicht", gewann man nicht durch gottähnliche Unfehlbarkeit, sondern durch praktizierte Lebenserfahrung, zu der natürlich auch die Fähigkeit gehörte, begangene Irrtümer schnell und elegant zu korrigieren und größeren Schaden zu vermeiden. "Wer sein Gesicht nicht verändern kann, der hat noch gar kein Gesicht", sagt Konfuzius.

Außerdem gibt es in einem Gruppenverband, in einer Familie (und die Nato will ja eine Familie sein), stets viele Gesichter, aus denen sich das Kollektivgesicht zusammensetzt. Hatte im alten China ein Gruppenmitglied gegen das Gesetz oder den Komment verstoßen, wurde es nicht etwa außerfamiliären, obrigkeitlichen Sanktionen überantwortet, sondern die Familie regelte den Fall intern, der Sünder wurde innerhalb des Verbandes zur Rechenschaft gezogen und bestraft, verlor Leben und Gesicht, damit nach draußen das Kollektivgesicht gewahrt werden konnte.

Familien, die statt dessen vor den Kadi zogen, um einen peinlichen Fall dort verhandeln zu lassen, wurden auf Anweisung der Obrigkeit zunächst einmal kollektiv durchgeprügelt, bevor die Verhandlung losging. Denn auch die Obrigkeit war der Ansicht, daß momentane Verfehlungen zwar sehr wohl auch in den angesehensten Familien vorkommen konnten, daß sie aber noch keineswegs das "Gesicht" der betreffenden Familie beschädigten. Die Beschädigung trat erst ein, wenn die Familie sich als unfähig erwies, den Irrtum schnell und unauffällig intern wiedergutzumachen.

Ganz besondere Verachtung zogen diejenigen Familien auf sich, die nicht aus Unerfahrenheit oder aus Dummheit, sondern aus Trotz vor den Kadi gezogen kamen, weil ihre Parteien einfach nicht einsehen wollten, daß ihnen ein Irrtum unterlaufen war. Der Trotz, lehrte Konfuzius, sei der schlimmste Quellgrund des Irrtums, er erst mache ihn fett und folgenreich, füge ständig neue Irrtümer zu einem alten hinzu. Vor dem Trotz müsse sich jeder gute Fürst hüten wie vor einem bösen Dämon.

Ähnlich dachten übrigens die klassischen Griechen, deren Dramatiker sich nicht genug tun konnten, vor dem Trotz, dem "thrasos", zu warnen, ihn als Unheilstifter zu denunzieren. "O Lieber, lern, im Ungemach nicht trotzig sein", beschwört Neoptolemos den Philoktet bei Sophokles, und so auch Theseus den Ödipus auf Kolonos: "O Tor, im Unglück ist der Trotz nicht förderlich!" In Platons "Politeia" erscheinen die Trotzigen, die "Stasiastiker", geradezu als öffentlicher Feind Nummer eins, als Ausgeburten der Unlogik und der Unpolitik, denen härteste Fesseln drohen.

Konfuzius, Sophokles und Platon mögen nicht unbedingt die geeigneten Ratgeber für moderne, "demokratische" militärpolitische Entscheidungen sein, aber daß bloßer Trotz, bloßes Weitermachen um des Weitermachens willen, nicht zur Wahrung eines guten Gesichts beiträgt, speziell wenn dabei Bomben fallen, versteht sich auch ohne sie. Der trotzige Weitermacher geht zwar, wenn er die Macht dazu hat, schließlich als "Sieger" aus der Affäre hervor, aber sein Gesicht pflegt darüber doch recht merkwürdige Züge anzunehmen.

Im Falle der Nato wird aus einem genuinen Verteidigungsbündnis nach dem "Sieg" eine Art Weltpolizist geworden sein, eine globale Ordnungsmacht, die die Gesetze, nach denen sie Ordnung schafft, selber erfindet – ein neues Gesicht, an das man sich erst gewöhnen muß. Wird man sich je daran gewöhnen können?

"An neue Gesichter", schreibt Schopenhauer in den "Parerga", "gewöhnt man sich nur, wenn sie entweder ausgesprochen schön oder gutmütig oder geistreich sind, was aber sehr selten vorkommt. Andernfalls lösen sie eine Empfindung aus, die dem Schrecken verwandt ist, indem sie – in neuer, überraschender Kombination – das Unerfreuliche darbieten."

Dies ist wohl richtig beobachtet und läßt in unserem konkreten Fall für die Zukunft ziemlich viel Schrecken erwarten. Denn schön, gutmütig oder gar geistreich ist das trotzige Polizistengesicht, das die Nato sich nun vorgehängt hat, gerade nicht. Bleibt einzig der Trost, daß Gesichter immer nur Masken sind, die mindestens ebensoviel verbergen, wie sie vorzeigen. Vom Gezeigten linear aufs Verborgene zu schließen, verbietet sich. Im Verborgenen liegt die Hoffnung.


 
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