© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Kosovo-Mythen
von Hrvoje Lorkovic

eit Ende März 1999 ist das Kosovo von einem der vielen, niemanden besonders aufregenden Konfliktherde auf dem Balkan zum zentralen Problem der Weltpolitik geworden. Wodurch? Vordergründig sind es rechtliche Aspekte, die bei der Nato die Hauptrolle spielen. Es sind allgemeine menschliche Grundrechte wie das Recht auf Identität, Kultur, Heimat, sogar auf das nackte Leben selbst. Der Westen will die drastische Mißachtung dieser Rechte in seiner Nähe nicht dulden.

Rückblickend erkennt man andere Beweggründe, solche, die als Folge der Unentschlossenheit entstanden sind, in Balkankonflikte einzugreifen, wo diese Konflikte doch größtenteils durch frühere Einmischung des Westens verursacht wurden (eine wohlrecherchierte und überzeugende Darstellung findet man bei Anzulovic, Heavenly Serbia, New York Univ. Press, 1999).

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR scheint somit die Weisheit der Einmischung einem neuen Pflichtbewußtsein zu weichen. Zufälliges Zusammentreffen solcher Motive und persönlicher Blamagen führender Persönlichkeiten (wie bei der Clinton-Lewinsky- Affäre) spielen auch eine Rolle.

Vordergründige serbische Motive für die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo sind bekannt: es ist der Wunsch, das Urgebiet des nationalen Staates, mit den Überresten der serbisch-orthodoxen Kultur, für sich wiederzugewinnen. Die Frage, warum dies gerade jetzt vorgenommen wird, ist weniger klar. Eine plausible Hypothese: der Mißerfolg bei der Verwirklichung des großserbischen Traumes im Sinne einer Ausdehnung Serbiens auf jene Teile der kroatischen und bosnischen Gebiete, in denen es serbische Minderheiten gibt, verlangte nach einer Kompensation, die näher am Herzen lag. Ist das Kosovo jedoch nicht ein schon seit Jahrzehnten anerkannter Teil des serbischen Staates? Reichte es nicht, daß die dort lebenden Albaner vor einem Jahrzehnt ihres legitimen Rechts auf Autonomie innerhalb Serbiens beraubt wurden? Wozu noch die mörderische Vertreibung?

Die Serben geben den "Terror" der Albaner, der sich angeblich gegen die serbische Minderheit richtet, als Begründung. Beweise dafür sind spärlich. Die Zahl der in Kosovo lebenden Serben hat sich seit Jahrzehnten nicht geändert, einen "Exodus" der Serben gab es nicht. Vereinzelt zeigte sich die seit den sechziger Jahren steigende ökonomische Kraft der Albaner im Kauf serbischen Grundbesitzes. Dank der erwiesenen serbischen Fähigkeit, Angstphantasien mit Wirklichkeit zu verwechseln, könnte dies ein Grund zur Sorge sein.

Der Umstand, daß die Kosovo-Albaner legitime Bürger Serbiens sind, erlaubt es den westlichen Medien, Milosevic als Henker des "ihm anvertrauten" Volkes darzustellen. Aber auch die Strafaktion der Nato ist rechtlich umstritten. Nur Ansätze einer Berechtigung sind vorhanden; die Durchsetzung verletzt trotzdem die formalen Souveränitätsrechte des jugoslawischen Staates.

Vor diesem zwielichtigen rechtlichen Hintergrund teilt sich die Welt: serbische Sympathisanten im Westen und Rußland als die Großmacht, die der serbischen Seite entschlossen den Rücken deckt, stehen dem offiziellen Westen gegenüber. Der Hauptgrund aber, der sich hinter den vielen Vorwänden versteckt, wird nirgends richtig unter die Lupe genommen. Er ist in der Tatsache zu suchen, daß sich seit den vierziger Jahren die albanische Kosovo-Bevölkerung nahezu vervierfacht hat. Ähnliches gilt für viele Teile der Dritten Welt, wo Greuel wie im Kosovo stattfinden und weitere zu erwarten sind. Daß die hohe Reproduktionsrate der Albaner Gefahren für die Serben birgt, ist verständlich, wenn man die rasch steigende Zahl junger (und kampffähiger) Männer, wie junger (und gebärfähiger) Frauen berücksichtigt. Das Gewicht der Zahlen wird durch das steigende Selbstbewußtsein, das in den Jahrzehnten nach 1945 von Titos Regime gefördert wurde, noch erhöht. Das in den letzten Jahren lauter werdende Verlangen nach einer Wiedererlangung der Autonomie und das Sprießen der Befreiungsbewegung (UÇK) zeigen deutlich die Tendenz weiterer Entwicklungen.

Nicht nur Milosevic, ganz Serbien leidet seitdem an der Kosovo-Paranoia. Überzeugten Demokraten mag dies gegen den Strich gehen, aber der Glaube an die ausschließliche Schuld Milosevics ist Illusion. Milosevic handelt, wie er will, aber nicht weil er über die Medien verfügt. Das serbische Volk hat er keineswegs eigenhändig, durch magische Propagandatricks unmündig, ja unzurechnungsfähig gemacht. Durch konträre Annahmen gerät das westliche Demokratieverständnis aufs Glatteis: wenn Propaganda so mächtig ist, wie für Serbien behauptet, wo ist das Volk, das aus echter Einsicht seine Regierung wählen kann?

Obwohl faktisch anerkannt, wird die Vermehrung und das Erstarken der Albaner weder von den Serben noch von westlichen Medien als Begründung für die Vertreibungen angegeben. Die Serben schweigen darüber, weil sie wissen, daß es keine international anerkannte (und anwendbare) Methode gibt, die das Kippen der Macht zu ihren Ungunsten zu verhüten vermochte. So greifen sie zu dem Mittel des Genozids.

Die Frage nach dem Recht eines Volkes, seine Nachbarn und Mitbürger durch ungedrosselte Vermehrung zu verunsichern, wird in der heutigen Welt noch nicht gestellt. Es ist dies ein Ausdruck der waltenden liberalen Ideologie und der mit ihr verbundenen politischen Korrektheit. Die Bestimmung der Zahl der Nachkommen gehört danach zur Privatsphäre jedes Einzelnen. Daß dieses Recht im Widerspruch steht zum Recht anderer Mitbürger, gegen bedrohliche Proporzverschiebungen in der Bevölkerung geschützt zu sein, will die liberale Rechtsprechung nicht wissen. Es wird schweigend angenommen, daß jeder Versuch, die Proportionen der Gruppen zu regeln, einem Bruch basischer Menschenrechte gleichkommen würde, daß er deshalb nur mit dem Geist geschichtlich bekannter "unmenschlicher" Rechtssysteme zu vereinbaren wäre.

Diese Einstellung ist auf längere Zeit rechtlich nicht haltbar. Sie ist es nicht aus denselben Gründen, aus denen man zum Beispiel das nazistische Recht für Unrecht erklärt hat: beide münden in sozialdarwinistischer Praxis. Ihr Prinzip: der zahlenmäßig Stärkere hat das Recht auf seiner Seite.

Einen expliziten Sozialdarwinismus, der die uneingeschränkte Vermehrung bestimmter Menschengruppen auf Kosten anderer für rechtlich unbedenklich erklären würde, hat es noch nicht gegeben. Das ist der Tatsache zu verdanken, daß der Sozialdarwinismus als Idee zu einer Zeit aufkam, in der die Lebensbedingungen im Westen schon längst den Vormarsch des liberalen Egalitarismus ermöglicht haben. Danach sollen Rassen-, Religions- und Kultur-Zugehörigkeit keinen Einfluß auf Rechte haben. Wenn jedoch zum Beispiel kulturelle Gruppenunterschiede in spürbar unterschiedlichem reproduktiven Verhalten Ausdruck finden, dann muß der multikulturelle Ethos einem zunächst verborgenen, dann aber zunehmend aggressiven Geist der Apartheid weichen.

Diese Tendenz kann durch energische Anti-Apartheid-Politik, egalitäre religiöse Ethik usw. nur vorübergehend aufgehalten werden. Unter besonderen Bedingungen, wie eben in Jugoslaswien, ist die Apartheid-Tendenz über alle Grenzen hinaus zum Völkermord ausgeufert. Zu Unzeit, wie es sich zeigt. Denn die Fahnenträger der Liberalität ergreifen nun die Chance, das scheinbare Machtvakuum mit einem humanitären Pathos zu füllen, der die Waffen sprechen läßt. Die "unmenschlichen" Serben lassen sich nicht einschüchtern, obwohl Serbien durch alles, das bisher geschah (und es kommt noch manches dazu), Schäden erlitten hat, für die es kaum Gelegenheit geben wird, sie zu reparieren.

Die Last der Flüchtlingsaufnahme destabilisiert inzwischen auch Mazedonien und Albanien. Solche Wendungen können keinem politischen Plan der Nato entsprechen. Das stolze Herausposaunen der Hilfsbereitschaft undder Erfolge einiger Staaten kann aber keinen Anlaß zur Überzeugung geben, jedem Elend könne, mit gutem Willen, entgegengewirkt werden. Die Erfahrung mit bosnischen Flüchtlingen zeigt, wie rasch die anfängliche Dankbarkeit in frustrierte Wut umschlägt, wenn dargebotene Hilfeleistungen nicht genügen, um den Standard der Gastgeber zu erreichen. Was mit der liberalen Tolerierung der ungezügelten Vermehrung beginnt, endet so mit Kriminalität; was mit Hilfeleistung beginnt, eröffnet neue Konflikte. Die passive Akzeptanz des unausgeglichenen Bevölkerungszuwachses mündet in einem unabsichtlichen Sozialdarwinismus auch dann, wenn der sich schnell vermehrende Anteil der Bevölkerung nicht sogleich und automatisch die politische Machtbilanz verändert.

In Abwesenheit einer internationalen Regelung der Bevölkerungszahlen bleibt einem Volk mit stagnierender Einwohnerschaft die Alternative, sich entweder dem ungewissen Schicksal der Übervölkerung durch andere zu überlassen oder die Bedrohung durch Vertreibung und Massenmord zu beseitigen. Die zweite Option wird (fälschlich, aber fast überall) mit "Faschismus" bezeichnet. Die Sinnlosigkeit des so benutzten Ausdrucks ist an der annähernd gleichen Zahl der Pro- und Contra-Nato-Transparente abzulesen, auf denen er vorkommt. Das trifft auch für die Fa-schismuskeule zu, die sich gegen westliche Regierungen richtet. Ist es wirklich nur der uneingeschränkte Machtwille, der Chirac, Schröder, Blair, usw. bewegt? Oder vielleicht nur der uneingeschränkte Unterwerfungswille, der sie zum Kniefall vor Clinton zwingt? Ist es so schwer sich vorzustellen, daß alle diese Politiker eigentlich mit Milosevic im selben Boot sitzen? Wo bleibt bei den Keulenschwingern das Gehör für das Gejammer, auch der Verantwortlichen, das überall in Europa zu hören ist, über die Unlösbarkeit sozialer Probleme, die durch arbeitslose "Gastarbeiter" und "Verfolgte" aller Art mit ihren zahllosen Kindern verursacht werden? Diese Politiker ringen ihre mit seidenen Handschuhen bekleideten Finger, nur um keinen von diesem Gesindel zu beleidigen.

Mit rechtlichen Problemen kommt auch Rußland nicht klar. Eine explizite Begründung für die Unterstützung Serbiens können die Russen, außer mit Hilfe von (im Westen nicht überzeugenden) Aussagen über die eigene Bedrohung, nicht geben. Nach allem, was aus Rußland kommt, scheint es, daß die Regierung um die Greueltaten der serbischen Polizei und Milizen wohl informiert ist, ihr Wissen jedoch nicht an die eigene Bevölkerung weitergibt, so daß es besonders den Kommunisten nicht schwerfällt, Serbien als schuldloses Opfer der Nato zu verkaufen. Von einer allgemeinen Begeisterung für die Serben kann also auch in Rußland keine Rede sein.

Inzwischen steigen andere Wolken am westlichen Horizont auf. Bei aller Unterschiedlichkeit stehen sich nämlich die Großmächte USA und Rußland zunehmend spiegelbildlich gegenüber. Keine darf nachlassen, denn mit jedem Schritt in dieser Richtung wird das oberste Gebot der "Glaubwürdigkeit" mißachtet. Durch solche Gebote werden jedoch Kriegslawinen erzeugt.

Es ist dieses Gebot, das auch die Absurditäten der politischen Schritte bestimmt. Die Nato ist bereit zu verhandeln, sobald Milosevic einlenkt. Er sieht jedoch keinen Anlaß dafür, solange ihm ein Bündnis mit Rußland und Weißrußland in Aussicht steht. Warum sollte er nach so vielen Beispielen russischer Opferbereitschaft (die, wie 1917, bis zum Opfer der Staatsordnung reichten) nicht noch einmal auf diese Karte setzen?

Es ist bekannt, daß Völker, die sich durch ihren desperaten Zustand geschwächt und gedemütigt fühlen, zu extremen Schritten bereit sind. Das Wort "gedemütigt" ist aus Rußland immer häufiger zu hören. Wenn einer zu verzweifeln beginnt, sinkt bei ihm die Schwelle für extreme Schritte unter jenen Stand, bei welchem Abschreckungen noch wirksam sein können.

Die Vorschläge des Westens wirken auf die Russen so, als wäre ihr Einverständnis gesichert. Sie sollten die Serben dazu bewegen, die Bedingungen der Nato zu akzeptieren, und sie sollen es tun, obwohl sie und die Serben diese Bedingungen ablehnen. Die Russen sollen bereit sein, die Serben an den Verhandlungstisch zu zwingen, als ob das, was unter Zwang beschlossen wird, noch als Ergebnis einer Verhandlung gelten kann. Durch die Kraft des Verhandlungsmythos wird Milosevic von einem, der sich an keinen Vertrag hält, zum annehmbaren Partner umgewandelt, sobald er ein Stück Papier gezeichnet hat. Es ist, als ob man gesagt hätte: Um Al Capone loszuwerden, müssen wir ihn für einen Vertrag gewinnen.

Der westliche Verhandlungsmythos gleicht sich so dem serbischen Kosovo-Mythos an. Dieser besagt, König Lazar habe sich, vom Erzengel vor die Wahl gestellt, einen weltlichen Sieg gegen die Türken oder das Himmelreich zu gewinnen, fürs zweite entschlossen. Hätte er es getan, wäre es zu keiner Schlacht gekommen. Er fiel aber in der Schlacht.

 

Prof. Dr. Hrvoje Lorkovic lehrte in England, den USA und Deutschland Physiologie. Er veröffentlichte zahlreiche volkspsychologische und kulturphilosophische Aufsätze.


 
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