© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Großbritannien: Schottland und Wales wählten erstmals eigene Landesparlamente
Engländer auf Identitätssuche
Michael Walker

Daß die letzten zwanzig Jahre eine Konjunktur des Regionalismus erlebten, während technologische Entwicklungen und internationales Witschaftswachstum unseren Planeten in ein "globales Dorf" verwandeln, ist ein bemerkenswertes Paradox, kompensiert aber zugleich den Verlust nationaler Identität. Ein Wahlversprechen der Labour Party lautete, Volksentscheide über eigene Parlamente für Schottland und Wales abzuhalten. Das Versprechen wurde gehalten. Das Ergebnis fiel in Schottland wie in Wales zugunsten eines nationalen Parlamentes aus. Das Government White Paper von 1997 legte bis ins Detail den geplanten Verlauf der Dezentralisierung und die Einrichtung eines schottischen Parlamentes in Edinburgh dar. Schottland sollte zum ersten Mal seit 1707 ein eigenes Parlament bekommen. Die Mitglieder des damaligen Parlamentes hatten für dessen Abschaffung und für die Vereinigung mit England gestimmt. Die Fahne des neuentstandenen Staates war der Union Jack, der das englische Sankt-Georgs-Kreuz (rot auf weiß) und das schottische Sankt-Andreas-Kreuz (diagonal blau auf weiß) symbolisch vereinte. So sah die symbolische Geburt Britanniens aus, eines riesigen Handelsreiches, das 200 Jahre lang die Meere regieren sollte. Die Wiederherstellung des schottischen Parlamentes im Jahre 1999, am Ende eines Jahrhunderts, in dem diese Weltmacht zusammenbrach und ihr Kolonialreich sich auflöste, ist so betrachtet seine symbolische Beerdigung.

Der Aufschwung des schottischen Nationalismus begann in den 60er Jahren mit der Forderung nach Autonomie. Die Entdeckung von Öl in der Nordsee, das sich angeblich in schottischen Territorialgewässern befindet, rückte die Unabhängigkeit in den Bereich des wirtschaftlich Möglichen. Bislang war Schottland ökonomisch auf die britische Union angewiesen gewesen. Aufgrund des konservativen Unionismus, des Zentralismus der Labour Party und des britischen Wahlsystems konnten die schottischen Nationalisten jedoch schon froh sein, überhaupt einen Sitz im britischen Parlament zu erringen. Die starke englische Ausrichtung von Margaret Thatchers Regierung leistete dem schottischen Nationalismus unfreiwillig Hilfestellung. Der Widerstand gegen eine Regierung, die Politik für die freie Marktwirtschaft und gegen die Gewerkschaften betrieb, führte in Schottland zu einer Rückwendung zu traditionellen puritanischen Tugenden wie Gemeinschaft, Solidarität, Sozialismus, Republikanismus, Fundamentalismus und eben Nationalismus. Der schottische Nationaldichter Robert Burns war Patriot und Sozialist. Hugh McDiarmid war ein Nationalist, der Stalin bewunderte; er wurde wegen seiner nationalistischen Überzeugungen aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und wegen seiner marxistischen Ansichten nicht in die Scottish National Party (SNP) aufgenommen. Bei der Vereinigung mit Schottland handelte es sich nicht um eine Eroberung, sondern um eine Übereinkunft; was erobert wurde, waren die katholischen Highlands mit ihrem Feudalsystem, ihrer Treue zu Königtum und Irrglauben. Dieses andere Schottland ging für immer unter, als der Widerstand der Highlanders in der Schlacht von Culloden zerschlagen wurde und das deutsche Königshaus die Herrschaft über Schottland und England gewann.

In den 70er Jahren sang die Folkgruppe "The Three Wheelers" patriotische Balladen, darunter auch Ian Harris‘ Neubearbeitung des Liedes "Flower of Scotland", das als inoffizielle Nationalhymne bei Fußballspielen und Wahlveranstaltungen ebenso angestimmt wird wie in Kneipen und zu Hause. Später gab es Filme wie "Braveheart" und "Train-spotting", die sich beide gleichermaßen auf eine schottische Identität berufen.

Alte und neue Identitätsmythen sind derzeit nebeneinander aktiv. Tony Blair begann seinen Wahlkampf in Schottland ausgerechnet in Culloden. Auf die Kritik, dies zeige mangelnde Sensibilität, reagierte er mit dem Kommentar: "Das spielt keine Rolle. Man müßte sich sehr weit zurückerinnern können." Aber bedeutet Nationalismus nicht genau dies: sich weit zurückzuerinnern?

Das neue Parlament hat die Form eines Hufeisens und befindet sich in Holyrood, am selben Ort, an dem das letzte Parlament seine eigene Auflösung beschloß. Alex Salmond, dem Führer der SNP zufolge, ist "das letzte Wort über das Vereinigte Königreich noch nicht gefallen". David McLetchie, ein schottischer Konservativer, der sich bemüht, die Abkehr vom Unionismus in Schottland zu verstehen, hat zugegeben, daß die Londoner Regierung den schottischen Konservatismus zu einer Zeit dominierte, als Separatismus in der Luft lag. "Unseren Entscheidungen und politischen Maßnahmen merkte man an, daß sie von London bestimmt wurden." Teddy Taylor, ein schottischer Abgeordneter, den man dem rechten Flügel zuordnet, ist der Meinung, der Niedergang der Konservativen in Schottland sei darauf zurückzuführen gewesen, daß die Konservativen sich unter Edward Heath und Margaret Thatcher weigerten, auf das schottische Erwachen zu reagieren. Bei den letzten Wahlen gelang es den Konservativen in Schottland nicht, auch nur einen einzigen Sitz im Parlament zu gewinnen. Die Labour-Regierung, die zu einem bemerkenswert hohen Prozentsatz aus schottischen oder zumindest in Schottland ausgebildeten Politikern besteht, hat ihr Wahlverprechen gehalten, dem schottischen Partikularismus Rechnung zu tragen, indem sie zunächst ein Referendum über ein schottisches Parlament abhielt und später, zwei Jahre nach dem positiven Ergebnis des Referendums, Wahlen zu diesem Parlament. Tony Blair zufolge wird dies die Union stärken. Schottland wird Macht zugeteilt, aber die Zuteilung erfolgt aus London.

Werden die Schotten mit diesem Kompromiß auf die Dauer zufrieden sein? Durchaus möglich. Der Angriff der neuen US-Weltordnung auf jede Nation, die ihre Souveränität zu ernst nimmt, hat ein Exempel statuiert, das viele Schotten sich zu Herzen nehmen werden. Wie dem auch sei, Umfrageergebnisse zeigen eine deutlich abnehmende Unterstützung für eine Unabhängigkeit Schottlands. Immerhin wird Brüssel Schottland genauso mit Geldern überschwemmen wie Irland und Spanien, so daß die in den 60er Jahren brennende Frage des Nordseeöls zur Nebensache wird.

Bei der Wahl zum schottischen Parlament wurde zum ersten Mal in der britischen Geschichte das bundesdeutsche Prinzip der proportionalen Repräsentation angewandt. 73 Abgeordnete werden per Direktmandat gewählt, 56 weitere mit Zweitstimmen. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet die Konservativen am meisten von diesem so "unbritischen" Wahlverfahren profitiert haben. Alle ihre 18 Sitze im neuen Parlament haben sie dem neuen System zu verdanken. Daß es eine Koalitionsregierung geben wird, steht schon fest. Kurz nachdem das Wahlergebnis feststand, kündigte Donald Dewer in einem Interview an, "vernünftige Diskussionen mit vernünftigen Menschen" führen zu wollen. Sowohl in Schottland als auch in Wales hat die Opposition deutlich gemacht, daß sie sich der im Londoner Westminster-Parlament üblichen Politik der Konfrontation nicht anschließen will. Wie Tony Blair immer wieder betont, soll die Dezentralisation die britische Union keineswegs zerstören, sondern stärken. Sie soll auf die gerechtfertigten Forderungen des schottischen Volkes nach mehr Kontrolle über seine eigenen Angelegenheiten eingehen und zugleich den Nationalisten den Wind aus den Segeln nehmen.

Die Wahlergebnisse hielten keine Überraschungen bereit. Sie bestätigten die Rolle der SNP als führende schottische Oppositionspartei. Die Labour Party gewann die Wahl mit 58 Sitzen. Nach dem britischen Wahlverfahren hätte dies eine absolute Mehrheit in Schottland wie auch in Wales bedeutet. Da sich das White Paper jedoch für das deutsche Verfahren aussprach, benötigt die schottische Labour Party einen Koalitionspartner. Die SNP errang 37 Sitze und verfehlte damit das erhoffte Ergebnis von 42 Sitzen.

Diskrepanz wird es geben zwischen der relativ weitläufigen Befugnis des neuen Parlamentes, die das Gesundheitswesen, Recht und Ordnung, Wohnungsbau und Verkehr einschließt, und seiner minimalen Berechtigung, Steuern zu erheben: ein Prozent Einkommenssteuer mehr oder weniger als England. Die "Fundamentalisten" der SNP, die die totale Unabhängigkeit befürworten, verhalten sich im Moment ruhig. Das wird sich ändern, sobald das neue Parlament an die Grenzen seiner Finanzkraft stößt.

Das zweite ungelöste Problem ist die "West Lothian-Frage": Ist es England gegenüber nicht ungerecht, wenn ein Abgeordneter, der das schottische West Lothian vertritt, in Westminster über Fragen abstimmen kann, die nur England betreffen, während rein schottische Angelegenheiten ausschließlich in der Kompetenz des schottischen Parlamentes liegen? Eine englische Erwiderung wird nicht lange auf sich warten lassen. Immer häufiger wird der Begriff "englisch" nicht als Kürzel für das Vereinigte Königreich verwendet, sondern als Differenzierung. Eine zunehmende Zahl konservativer Kommentatoren lassen durchblicken, daß es in Englands Interesse wäre, sich von Schottland zu trennen. Die Anfeuerungsrufe Tausender schottischer Fußballfans überall im Land, die sich während der letzten Weltmeisterschaft gegen die englische Mannschaft richteten, sind in lebhafter Erinnerung geblieben.

Ein anderes Dilemma betrifft die Linke allgemein und insbesondere die Linken der Labour Party. Das relativ schlechte Abschneiden bei den Wahlen zum schottischen Parlament macht deutlich, daß viele Linke für die SNP stimmten, weil sie über die Abkehr der Labour Party vom Sozialismus enttäuscht waren. Schließlich stehen die Parteilinken in vielen Bereichen der SNP näher als der derzeitigen Labour-Parteiführung. Andererseits liegen die Wurzeln dieser Linken im Fabianismus, einer zentralistischen sozialistischen Tradition, die stark vom Marxismus beeinflußt ist. Wer seine Hoffnung auf einen zentralistischen sozialistischen Staat setzt, will von Devolution natürlich nichts wissen.

Wie werden die Briten südlich der schottischen Grenze reagieren? Wie lange werden sie sich noch als "Briten" bezeichnen, wenn die Schotten darauf bestehen, "Schotten" zu sein, und die BBC, wie vor kurzem angekündigt, den Begriff "britisch" nicht mehr verwenden will, um nicht die Schotten und Waliser zu diskriminieren? Sollten die Engländer mit ihrer englischen Identität ernst machen, ist einiges zu erwarten. Bereits 23. April waren in England überall auf den Straßen Postkarten und Fahnen zu sehen, die ein rotes Kreuz auf weißem Hintergrund zeigten: die Flagge des "Schwarzen Prinzen", die Flagge der Kreuzritter, die Flagge Englands, die Flagge des Heiligen Georg. Genau dies ist es, worauf die nationalistischen Befürworter der schottischen Unabhängigkeit zählen – eine anti-schottische Reaktion südlich der Grenze, die dazu beitragen wird, Schottland zur vollständigen Unabhängigkeit zu verhelfen. Wem die Geschichte recht geben wird – Tony Blair oder den Separatisten auf beiden Seiten –, läßt sich noch nicht absehen.


 
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