© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Pankraz, F. Nightingale und dieKanonen von Sewastopol

Völllig von der Rolle ist offenbar die britische Gewerkschaft der Krankenpflegerinnen und -pfleger. In einer donnernden Mitteilung an den intenationalen Krankenschwesternverband fordert sie denselben auf, seine Jahrestagungen nicht mehr – wie bisher üblich – auf den fünfzehnten Mai, den Geburtstag der berühmten Urkrankenschwester Florence Nightingale (1820 bis 1910), zu legen.

Florence, so heißt es, dürfe nicht fürderhin Vorbild für Krankenschwestern sein. Sie habe ein "durch und durch antiquiertes Dienstethos" vertreten, habe sich demütig, ja "unterwürfig" gegenüber Ärzten verhalten und "eine gründliche wissenschaftliche Ausbildung der Schwestern abgelehnt". Auf den Müll mit Florence, der Nachtigall!

Wahrscheinlich haben sich die Londoner Gewerkschafterinnen, bevor sie ihr Verdikt losließen, zu viele Krankenhausserien im Fernsehen angeguckt. Dort sind die Schwestern freilich weder demütig noch von Wissenschaft unbeleckt, es sei denn, sie stammen aus Südkorea. Sie verstehen ihre Arbeit nicht als Dienst, sondern als Job ("ein Job wie jeder andere"), wissen alles besser als der Chefarzt, sind mit Begeisterung sämtlichen Möglichkeiten des modernen Lebens zugetan, machen pünktlich Feierabend und verstehen es blendend, die ihnen zustehenden Rechte wahrzunehmen. Es sind keine Nachtigallen, sondern die reinsten Tagpfauenaugen.

Ob die Praxis des wirklichen Krankenhausalltags schon gänzlich mit dem Fernsehbild übereinstimmt, wagt Pankraz zu bezweifeln. Besonders in katholischen Hospizen und Heimen waltet mit Sicherheit noch das Ethos der Florence Nightingale, man könnte auch sagen: der heiligen Elisabeth, oder der Elsa Brandström, oder der Mutter Teresa.

Nicht "Wissenschaftlichkeit", Rückgriff auf erlerntes, automatisch abrufbares Methodenarsenal, ist dort die Devise, sondern Einfühlung, Mit-Leiden, lebenspraktische Anteilnahme. Und genau dieser Umstand ist es, der auch atheistische, ausgesprochen "modern" gesinnte Kranke veranlaßt, sich gegebenenfalls in die Obhut solcher "altmodischen" Hospize zu begeben. Besser ist besser, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

Ein Krankenhaus mit "demüti-gem", spontan reagierendem Pflegepersonal muß ja keineswegs weniger Heilkraft entfalten als eine voll auf Effizienz getrimmte, nach den neuesten Einsichten durchorganisierte Gesundheitsfabrik. Es verfügt in der Regel über ausgezeichnete Spezialisten, Gerätschaften, Laboratorien – und darüber hinaus über etwas, was die Fabrik nicht hat: den trotz aller Pflegeroutine intensiv spürbaren und erlebbaren Geist der Pflegsamkeit selbst, der den Patienten so wohltut und der vorzugsweise die Domäne der "Nachtigallen" ist.

Indem die "Nachtigall", sei sie nun Florence, Elisabeth, Elsa oder Teresa, ihr eigenes Licht aus Überzeugung unter den Scheffel stellt, indem sie erkennen läßt, daß sie ausdrücklich "dient", beruhigt sie den Kranken, nimmt ihm die Angst, zum bloßen Objekt des Heil- oder Pflegeprozesses gemacht zu werden. Sie bereitet ihm ein Nest, und das ist letztlich ein weibliches Privileg, bei allem Respekt vor männlichem Pflegepersonal. Der Geist der Pflege ist weiblichen Geschlechts.

Wenn heute ausgerechnet von Frauen unter dem Schlachtruf "Weg mit Florence Nightingale!" zur "Verwissenschaftlichung" und zur "Selbstbewußtwerdung" des Schwesternberufes aufgefordert wird, so ist das ein Anschlag auf den Schwesternberuf selbst, auf seinen weiblichen Grundbestand. So etwas kommt ja im Zeichen des Feminismus auch andernorts vor: Die Frauen glauben sich zu "befreien", doch in Wirklichkeit ahmen sie nur die Männer nach, geben ihr Eigentliches preis, vermännlichen die Lebenswelt, statt sie zu verweiblichen.

Im Fernsehen etwa, wo es mittlerweile von Moderatorinnen, Reporterinnen und weiblichen Ankermännern wimmelt, ist durch diese Invasion der Weiblichkeit keineswegs eine gemütlichere, friedvollere, genuin weiblichere Programmgestaltung durchgesetzt, sondern im Gegenteil: der Laden wurde greller, gemeiner, gewalttätiger. Und dies eben deshalb, weil die Frauen nichts eiligeres zu tun hatten, als die "besseren", sprich: männlicheren Reporter und Ankermänner zu werden, das von Männern geprägte Berufsbild voll zu erfüllen und überzuerfüllen, als gnadenlos bohrende Schreckschrauben, vor denen sich die Objekte der Recherche buchstäblich zu Tode fürchten sollen.

Mag sein, im Fernsehen, an der Kosovo-Front oder bei der Entlarvung von ungetreuen Stadtdezernenten, die kleinen Kindern die öffentlichen Spielplätze wegrationalisieren wollen, macht so etwas noch Sinn, aber im Krankenhaus, wehrlosen, von Angst geplagten Patienten gegenüber, entartet es unweigerlich zum Horror. Schwestern, die dort mit der Attitüde chefärztlicher Gottähnlichkeit auftreten, in Konfliktfällen immer nur auf ihre sechs Semester Krankenschwester-Grundstudium hinweisen und mit angelernten psychologischen Lehrbuchtricks operieren, wo pures, unreflektiertes Mit-Leiden angebracht wäre, vermehren die letalen Abgänge.

Florence Nightingale, man erinnert sich, bekam die Feuertaufe für ihren Schwesternberuf im Krim-Krieg, als sie unter dem Donner der Kanonen von Sewastopol frisch Verletzten Erste Hilfe leistete, klaffende Wunden verband, heiße Stirnen kühlte, Trost zusprach. Es war Samariterdienst, unmittelbares, von Augenblicksentscheidungen abhängiges Helfen.

Nicht jede Schwesterntätigkeit steht unter der Drohung von Kanonen, meist ist mehr Zeit für vorausschauende Planung, Prüfung des Wissens. Aber eine Krankenschwester, die keinen kriegsbedingten Samariterdienst leisten kann oder will, verdient ihren Namen nicht.


 
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