© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher
Untoter der Literaturgeschichte
Elvira Seidel

Johannes Bobrowski spottete in den fünziger Jahren über seinen Schriftstellerkollegen, den DDR-Kulturminister Johannes R. Becher: "Dies ist der größte Dichter, so redet und schreibt man. Ich stimme / immer damit überein, er ist der größte, gewiß; / nämlich der größte tote Dichter bei Lebzeiten, einer / den niemand hörte und las, – aber er lebte und schrieb."

Bis heute geistert Becher als Untoter durch die Literaturgeschichte. Von der SED zum "Dichter der Nation" ausgerufen, gilt er vor allem als Repräsentant der SED-Kulturpolitik. Mit dieser Rolle wurde er noch Jahrzehnte nach seinem Tod so stark identifiziert, daß die Enthüllung des bis dato unbekannten Walter Janka im Herbst 1989, Becher habe ihn 1956/57 in einem politischen Verfahren feige im Stich gelassen, einen Sturm im zerberstenden Wasserglas der DDR auslöste. Seitdem gilt Becher als Paradebeispiel für das Elend linker Intellektueller in Deutschland überhaupt.

Nun liegt ein Buch des Jenaer Literaturwissenschaftlers Jens-Fietje Dwars, Jahrgang 1960, vor, der die Person und den Dichter hinter dem öffentlichen Popanz wiederentdecken will. Becher wurde 1891 in München geboren. Der Vater des Dichters war Jurist und späterer Präsident des Oberlandesgerichts – eine wahrlich romanhafte Konstellation. Angestaute Spannungen entluden sich 1910, als der Gymnasiast gemeinsam mit einer acht Jahre älteren Zigarrenhändlerin einen Doppelselbstmord versuchte. Die Frau starb, Becher überlebte. Hinter der vernarbten Schußwunde, für Röntgenstrahlen unerreichbar, sollte sich eine tödliche Geschwulst bilden, an der er 1958 starb.

Die Darstellung im autobiographischen Roman "Abschied" (1940), wonach er 1914 aus Protest gegen den Krieg und das Bürgertum den Bruch mit seinem Elternhaus vollzogen habe, ist eine Legende. In Wahrheit ging die Trennung vom Vater aus, der es leid war, den 23jährigen Schwabinger Bohemien, der sein Studium nicht zu Ende brachte und morphiumsüchtig war, weiter durchzufüttern. In solchen Wunschprojektionen spiegeln sich die Konflikte Bechers wider, der die Dichtung zur Behauptung eines imaginären Ichs brauchte, mitunter mißbrauchte. Wenn er mit expressionistischem Gestus den Vatermord beschwor oder die russische Oktoberrevolution bejubelte, ging es ihm auch darum, das verunsicherte Selbst durch den Bezug auf künstlerische und politische Bewegungen energisch aufzuladen. Künstlerisch überzeugte er damit nur selten, an die Stelle literarischer Objektivierung trat die selbstgerechte, martialische Verkündigung.

1919 wurde er Mitglied der KPD. Mit marxistischen Überzeugungen hatte das zunächst wenig zu tun, wie ein folgendes katholisches Intermezzo zeigte, ehe er sich 1923 erneut den Kommunisten anschloß. Nach dem Zweiten Weltkrieg litt er schwer an der deutschen Teilung, das "Deutschland einig Vaterland" aus seiner DDR-Hymne war tief empfunden. In einem Testamentsentwurf von 1954 bestimmte er seine Beerdigung in München – ein politisches Skandalon und posthumer Befreiungsschlag, wenn er dabei geblieben wäre. Er revidierte diese Verfügung jedoch, wohl wissend, daß seine testamentarische Verwahrung gegen die verlogene Totenweihe der SED nichts nützen würde. Wieder verlor er sich in den Abgründen unaufgelöster Widersprüche, die auch die Widersprüche seiner Zeit waren.

Die Darstellung des Konnexes von persönlichen, künstlerischen, politischen und weltgeschichtlichen Konflikten wirkt erhellend, manchmal auch verblüffend, wenn Dwars etwa den Einfluß des Friedrich Nietzsche auf Becher schlüssig darlegt. Seine ostentative kommunistische Gesinnung erscheint als Disposition eines ratlosen Bürgersohns, der "den jüdischen Erlösungsgedanken mit einer deutsch-nationalen Tradition des soldatischen Helden" vereint. Diese und vergleichbare Gedankengänge sind dabei keineswegs immer so originell, wie Jens-Fietje Dwars mit souveräner Gebärde suggeriert. Schon vor Jahren hatte Carsten Gansel in seinen Dokumentarbänden "Metamorphosen eines Dichters" und "Der gespaltene Dichter" (erschienen 1991 und 1992 im Aufbau-Verlag) ähnliche Grundzüge einer geistigen Biographie Bechers skizziert. Insgesamt wäre es überzeugender gewesen, wenn der Autor sich auf die Aufgabe als Biograph konzentriert hätte, anstatt noch als Selbständiger für Philosophiegeschichte und für deutsche und sowjetische Historie brillieren zu wollen. Im Bemühen, Bechers Tun und Lassen zu erklären, tritt Dwars als Naphta des Leninismus auf: Der russische Revolutionsführer wird zum tragischen Heroen, Ulbricht war zwar schlimm, aber Adenauer noch schlimmer, und der Stalinismus wird als "Wille zu großer Politik, zur Garantie von Frieden und Sicherheit aus Verantwortung für das Leben und der Kultur der Völker" verklärt.

Diese Entgleisungen ergeben sich logisch aus der spezifischen Lesart des Verfassers. Die Gründe für Bechers Scheitern liegen demnach darin, daß dieser sich in einem politischen Umfeld bewegen mußte, dessen Protagonisten sich nicht auf der notwendigen intellektuellen Höhe befanden, um die neohegelianischen Reflexionen des jungen Georg Lukacs in die Praxis umzusetzen.

Lukacs hatte in "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) über die potentiellen Möglichkeiten des Proletariats, zum "identischen Subjekt-Objekt des gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsprozesses" zu werden, meditiert. Die Manie von Lukacs, nämlich die Entfremdung und Verdinglichung primär als klassenspezifische Phänomene zu beschreiben und bei der Definition der Befreiungsfunktion des Proletariats und seiner "Avantgarde", der Kommunistischen Partei, in scheindialektischen Wendungen den Umschlag von der kritischen Analyse zu einer irrationalen Heilserwartung – die in ihrer Realitätsverneinung bereits blutige Gewalt antizipiert – zu vollziehen, wird von Dwars nicht zurückgewiesen. So verfällt er selber stellenweise in den Ton des Dogmatikers, zu dem schon Lukacs in den dreißiger Jahren folgerichtig mutiert war.

An Stellen wie den zitierten wird auch deutlich, wieviel an Autorengroll und persönlichen Verletzungen (der Verfasser wurde nach der Wiedervereinigung vom Universitätsdienst "abgewickelt" und wird im Klappentext als erwerbslos vorgestellt) in diesem Buch steckt. Es ist nicht nur Biographie und Geschichtswerk, sondern zugleich eine wütende Streitschrift gegen die Art und Weise der Wiedervereinigung, durch die laut Dwars lediglich das Deutungsmonopol der SED durch das der – westdeutsch depriminierten – Medien ersetzt wurde. Letztlich stellt dieser unverhüllt polemischer Ansatz die Seriosität des gesamten Buches in Frage.

Nach der Lektüre legt man ein teils scharfsinniges, weitgehend ressentimentgeladenes, schlecht strukturiertes und schwer lesbares Konglomerat disparater Textsorten aus der Hand, dessen ausufernder Umfang durch den Gegenstand nicht einmal gerechtfertigt ist. Das Fehlen einer Zeittafel und einer Bibliographie ist zusätzlich ärgerlich. Und den toten Klassizisten erweckt diese Biographie gewiß nicht wieder zum Leben.

 

Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 861 Seiten mit 26 Abb., 98 Mark


 
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