© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


Bündnis 90/Die Grünen: Der Bielefelder Himmelfahrts-Parteitag und seine Nachwirkungen
Schmerzen im Ohr und in der Seele
Hans-Georg Münster

Der Hang zum Selbstbetrug ist mit der Politik untrennbar verbunden. Wenn Außenminister Joschka Fischer in den Schlußminuten des turbulenten Bundesparteitages von Bündnis 90/Die Grünen erklärte, er fühle sich "dem gesamten Spektrum grüner Friedenspolitik verpflichtet", dann handelt es sich um exakt den Selbstbetrug, ohne den selbst führende Politiker der Grünen nicht mehr leben können.

Denn wenn der Bielefelder Sonderparteitag der Grünen zum Kosovo-Konflikt eine Erkenntnis gebracht hat, dann die, daß sich große Teile der Partei mit Fischer nicht mehr verbunden fühlen. Zwar wurde schon kurz nach Beginn in der stimmungsgeladenen und von Stinkbomben-Gestank erfüllten Halle sichtbar, daß sich eine knappe Mehrheit für Fischer aussprechen würde.

Doch die Fähigkeit zum Kompromiß haben die in allen wichtigen Fragen in zwei Flügel tief gespaltenen Grünen schon lange verloren. Ein Kompromiß zur Kosovo-Frage und zu den Nato-Bombenangriffen war ohnehin ausgeschlossen. Ein "bißchen Bombenabwerfen" gibt es genausowenig wie ein "bißchen schwanger".

Für Fischer stand nicht weniger als der Verbleib in Amt und Würden auf dem Spiel. Nachgeben konnte der Außenminister, der vom einstigen Pflasterstrand-Aktivisten längst zum idealen Schwiegersohn-Typ des Wohlstandsbürgertums avancierte, daher keinen Zentimeter: "Ich werde das nicht umsetzen", warnte er das Plenum vor der Annahme des Antrages der Linksgrünen, die einen sofortigen und bedingungslosen Stopp der Nato-Luftangriffe forderten.

Kritik an Nato ist reine Augenwischerei

An einem solchen Beschluß wäre die rot-grüne Koalition in Bonn möglicherweise zerbrochen, und Fischer hätte sich auf den harten Bänken der Opposition wiedergefunden. Das kann jedoch nicht der Sinn eines 20jährigen Marsches durch Institutionen und Parlamente gewesen sein, daß nach einem halben Jahr Beteiligung an der Macht alles wieder vorbei ist und nichts bleibt außer etwas Übergangsgeld und ein marginaler Pensionsanspruch.

Daher hat die Mehrheit der Grünen-Funktionäre, die auf gleicher oder niedrigerer Ebene ebenso vom Verlust regierungsamtlicher Pfründe betroffen wäre, die Entscheidung zwischen Macht und Moral genauso konsequent getroffen wie der Außenminister: Erst kommen Bauch und Dienstwagen, und dann kommt lange gar nichts. Berufene Wortverdreher wie der Alt-Aktivist Daniel Cohn-Bendit konnten das in schöne Sätze kleiden: Es helfe doch nichts, wenn die grüne Identität gerettet würde und die Kosovaren sterben würden.

Natürlich enthält der beschlossene Leitantrag des Vorstandes viel Kritik an der Nato, was reine Augenwischerei ist. Denn wenn in demselben Antrag die Nato gebeten wird, keine völkerrechtswidrigen Waffen einzusetzen und Fischers Friedensplan gelobt wird, dann dürften die Generäle in Brüssel dies als ausdrückliche Ermunterung verstehen, Serbien komplett in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Oder, etwas netter ausgedrückt: Die alliierte Stadtbildveränderung kann weitergehen, auch wenn der Grünen-Parteitag in einem Nebensatz seines Beschlusses die Auffassung vertrat, man solle das Bomben vielleicht befristet einstellen, weil Milosevic dann vielleicht seine Mörderbanden aus dem Kosovo komplett abzieht.

Der massive Einsaz von Trillerpfeifen und das Blockieren der Halle durch Friedensökoaktivisten, als handele es sich um einen Castor-Transport, ändern nichts daran, daß die Grünen auf ihrem Weg zu einer ganz normalen bürgerlichen Partei bereits weit vorangekommen sind. Der Demonstrant, der Fischer mit einem Farbbeutel bewarf und am Trommelfell verletzte, wirkte wie ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten.

Die neuen Freunde der Grünen, Beamte in grünen Uniformen, hatten ausgerechnet die Partei zu beschützen, von der sie in der Vergangenheit am heftigsten beschimpft worden waren. Noch standen die 1.500 Polizisten vor der Halle; drinnen waren zivile Wachleute im Einsatz. Das dürfte sich bei den nächsten Treffen ändern: Dann werden die Grünuniformierten ganz nah bei den Grünen sein. Fischer hätte sich nie träumen lassen, "daß wir einmal einen Parteitag unter Polizeischutz abhalten". Natürlich nicht. Aber es liegt in der Natur des Umformungsprozesses von einer systemkritischen zur systemtragenden Partei, daß dann auch die das System tragenden Ordnungskräfte zum Schutzeinsatz kommen. Noch vor einem Vierteljahrhundert wäre das Bielefelder Spektakel vermutlich mit Einsatz von Gummiknüppeln und Wasserwerfen vor dem eigentlichen Beginn beendet worden.

Grüne Wählerschaft droht wegzubrechen

Fischer hat Schmerzen im Ohr, eine Minderheit wie Annelie Buntenbuch und Eckard Stratmann Schmerzen in der Seele. Die Linksgrünen, die aus nachvollziehbaren Gründen der Auffassung sind, daß man Grundpositionen nicht wechseln kann wie der Außenminister seine Maßanzüge, werden sich am 6. Juni in Dortmund zu einem Strategiekongreß treffen. Austritte sind bereits vollzogen (siehe Beitrag auf dieser Seite) oder werden noch erfolgen. Sie werden die Strukturen der Partei im Westen (in den neuen Ländern sind kaum welche erkennbar) nicht nachhaltig schwächen. Aber die grüne Wählerschaft, genauso zerrissen wie die Partei, droht wegzubrechen.

Auch das ist keine neue Erfahrung: 1990 erstarrte das linke Lager durch den Beitritt der DDR zur BRD derart, daß massenhaft Wahlenthaltung geübt wurde und die Grünen nur durch einen wahlrechtlichen Sonderfall einige Abgeordnete aus den neuen Ländern ins Bonner Parlament entsenden konnten. Genauso verheerend sieht es für die grüne Partei bei den bevorstehenden Europawahlen am 13. Juni aus.

Das erreichbare Wählerpotential der Grünen liegt bundesweit keinesfalls mehr bei zehn Prozent, wie der ehemalige Vorsitzende Jürgen Trittin noch vor einem Jahr mutmaßte. Insbesondere jungen Wählern sagt die grüne Lebenswelt nichts mehr. Die Grünen sind nicht erwachsen, sondern alt geworden. In zehn Jahren wird die vermeintliche Jugendbewegung größere Teile der Rentnergeneration ansprechen.

Sechs Prozent waren bisher den Grünen zuzuordnen. Orientiert sich der fundamentalistich-pazifistische Flügel zur Wahlenthaltung oder zur PDS, bedeuten die dann fehlenden zwei bis drei Prozentpunkte das parlamentarische Aus. Denn neue Wählerschichten sind für die Grünen nicht erkennbar.

Auf das Kriegshandwerk versteht sich die SPD mit Rudolf Scharping ohnehin besser, der linke Pazifismus kann eine neue Heimat in der PDS finden. Und ökologische Positionen vertritt heute selbst die CSU überzeugender. Vielleicht ist im zusammenwachsenden Deutschland auf Dauer kein Platz für zwei linke Regionalparteien, wie die Grünen im Westen und die PDS in den neuen Ländern.

Kanzler Schröder, der sich verhalten erfreut über den Ausgang des Grünen-Parteitages zeigte, dürfte mit dem schwächer werdenden kleinen Koalitionspartner künftig weniger Probleme haben. Insgeheim lachen sich die Bonner Genossen ins Fäustchen. Fischer darf weiter um den Globus jetten wie einst Genscher und Kinkel. Nur die eigentliche Politik wird künftig im Kanzleramt nach sozialdemokratischen Vorgaben gemacht.

Unmittelbar nach Kriegsende – darüber sind sich führende Sozialdemokraten einig – soll Schröder das Heft in die Hand nehmen und die innenpolitischen Narreteien beenden. Dann werden grüne Positionen reihenweise einkassiert, die Ökosteuer wird Nebensache. Und im Fischer stützenden Realo-Flügel wird man darüber nachdenken, ob in Bielefeld ein Pyrrhus-Sieg errungen wurde."


 
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