© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


Liberalismus und Moral: Vor 25 Jahren starb Goetz Briefs
Begrenzte Spielräume
Christian Klein

"Obgleich wir vielfach klagen", so der Würzburger Soziologe Lothar Bossle, "daß unserer jungen Generation die vorzeigbaren Vorbilder fehlen, lassen wir die großen Gestalten des christlichen Aufbruchs in die moderne Zeit in der Ecke der Vergeßlichkeit allein dastehen. So auch Goetz Briefs, welcher die Undankbarkeit unserer Zeit mit vielen Gelehrten teilt, die neben ihrem beachtlichen wissenschaftlichen Lebenswerk durch ihr ethisches, religiöses und prophetisches Charisma dem ratlos suchenden Menschen gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Leitbild sein könnten."

Am 16. Mai jährte sich der Todestag von Goetz Briefs zum 25. Mal. Sein Werk umfaßt von seiner 1912 publizierten Dissertation bis 1969, dem Erscheinungsjahr der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag, 319 Titel mit insgesamt etwa 5.420 Druckseiten. Trotz oder gerade wegen dieser unfaßbaren Flut an publizierten geistigen Destillaten faszinierender Gedankengänge hat Briefs es nicht vermocht, der Nachwelt ein großes letztes Werk zu hinterlassen, mit dem sein Name stets assoziiert worden wäre.

Dies ist deshalb um so bemerkenswerter, als er sich auch mit prominenten Denkern des 20. Jahrhunderts problemlos messen konnte. Unvergessen ist sein Büchlein von wenig mehr als hundert Seiten, das Oswald Spenglers Schrift "Untergang des Abendlandes" zerlegt und vor einer Entwicklung warnt, "in der keine dritte Dimension für Mensch und Gesellschaft den Horizont der Transzendenz offen läßt". Alphons Horten schreibt über seinen Freund Goetz Briefs: "Während weite Teile der Öffentlichkeit in Spengler den größten geistigen Führer durch die Turbulenzen und Unsicherheiten der Nachkriegszeit sahen, wies Goetz Briefs mit unerbittlicher Konsequenz und durchdringender Klarheit nach, daß der Kern der sogenannten Spenglerschen Philosophie nihilistisch war und die große abendländische Geistestradition verleugnete."

Goetz Briefs wird heute gern als Gewerkschaftsfeind, Vertreter der katholischen Soziallehre und Antikommunist gesehen. Die Frage, was an Gewerkschaften gefährlich sein soll, beantwortete Briefs seinerzeit mit der Warnung vor "befestigten Gewerkschaften": "Keine Demokratie kann übersehen, daß ziffernmäßig starke Verbände, auch wenn sie primär im Wirtschaftlichen verankert sind, politisch relevant sind", so Briefs. Die Macht von Verbänden könne so groß werden, daß der Gegner jeden Mut zum Widerstand verliere: "Die Forderung an die Verbände, in ihrer Politik das Gesamtinteresse zu wahren, übersieht, daß selbst bei gutem Willen (…) ihre Struktur und Funktion es schwer, wenn nicht unmöglich machen, zur Idee der Gesamtverantwortung für das Gemeinwohl durchzudringen".

Briefs, der jüngster Professor des Deutschen Reiches war und 1934 von Italien aus in die USA auswanderte, konstatiert: "Wir haben im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien den Aufstand gegen die zweite Phase des Liberalismus erlebt; gegen die Starrheiten und Inflexibilitäten der gruppenindividualistischen Phase sah man die Rettung in einer totalitären Form von Wirtschaft und Gesellschaft". Totalitäre Formen seien "die dritte Phase der Dialektik des Liberalismus". Ab einem bestimmten Punkt beginne jede Verbandsleitung nicht mehr nur die ursprünglichen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, sondern wolle Politik machen und mische sich in alle möglichen Bereiche ein, um möglichst viele Mitglieder für sich zu gewinnen. Briefs sieht in dieser Phase des Liberalismus den totalitären Gedanken als dessen "kontradiktorisches Gegenteil" an: "So hat sich in der sekundären Phase des Liberalismus die alte Neutralität des Staates in eine sehr aktive Kooperation mit den pluralistischen Organisationen verwandelt." Schließlich seien die ursprünglichen gesellschaftlichen Selbstregelungsmechanismen so geschwächt, daß Krisen nicht mehr bewältigt werden könnten: "Lohn- und Preis-Niveaus bleiben durch die Macht von Kartellen und Gewerkschaften aufrecht erhalten, selbst gegen den Trend der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Preis dafür ist die Vertiefung der Krise, ungeheure Erwerbslosigkeit, Überlastung der öffentlichen Kassen, das Unergiebigwerden von alten und neuen Steuern, und neue Vertiefung der Krise, die sich in ausweglose Depression auswächst".

In der Depression, je mehr und je länger sie dauere, breche ein Grundgefühl durch, "daß ’es so nicht weiter gehen kann‘, daß ’Ordnung geschaffen werden muß‘, daß ’endlich wieder einmal regiert werden soll‘...Offensichtlich richtet sich diese totalitäre Wendung gegen die sekundäre Phase des Liberalismus". Briefs warnte, daß sich Gewerkschaften völlig klar sein müßten über den begrenzten Spielraum der Freiheit. Soziale Umformungen und Einbauten seien auch eine Chance: "Wird sie verpaßt, dann dürfte der Trend in den tertiären Liberalismus, den Totalitarismus, unaufhaltsam sein", so Briefs im Jahr 1949.

Die Originalität und Universalität der Briefs'schen Gedanken spiegelt das von ihm in seiner Anti-Spengler Schrift formulierte Theorem der Grenzmoral wider, das eine Übertragung von Lehren der ökonomischen Grenznutzenschule auf ethische Prinzipien darstellt: "Unter ’Grenzmoral‘ verstehe ich die Moral der am wenigsten durch moralische Hemmungen im Konkurrenzkampf behinderten Sozialschicht, die aufgrund ihrer Mindestmoral unter übrigens gleichen Umständen die stärksten Erfolgsaussichten hat und sohin die übrigen konkurrierenden Gruppen bei Strafe der Ausschaltung vom Wettbewerb zwingt, allmählich in Kauf und Verkauf sich dem jeweiligen tiefsten Stand der Sozialmoral (der ’Grenzmoral‘) anzugleichen. Das gilt ’tendenziell‘."

Wer eine Erklärung für den moralischen Zerfall unserer Gesellschaft und die ausufernde Korruption sucht, der führe sich das 1920 erdachte Theorem vor Augen.


 
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