© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


Carl Schmitt: Distanz zwischen Rechtslehre und Realpolitik verschwindet
Planspiele des Schicksals
Menno van Heeckeren

Nur selten haben Staatswissenschaftler so schnell die Gelegenheit, ihre Theorien in die Praxis umzusetzen, wie es Carl Schmitt widerfuhr. Obwohl er sich, als katholischer Westfale, im preußisch-protestantischen Universitätsmilieu des Deutschen Reiches fast zeitlebens in einer Diaspora wähnte, gelang es ihm nach seiner Berufung an die Berliner Handelshochschule 1928, überraschend schnell an die Schalthebel der Macht zu geraten. Das Hindenburgsche Präsidialregime auf der Grundlage des Notverordnungsartikels 48 entsprach Carl Schmitts politischen Vorstellungen noch am ehesten; mit der totalitären Polykratie des Dritten Reiches dagegen hatte Schmitt sehr viel weniger im Sinn. Gerade auf diese Phase seines politischen Wirkens beziehen sich Vergangenheitsbewältiger am liebsten; zu denken ist dabei an die fast zum Klischee gewordene Wendung vom "Kronjuristen des Dritten Reiches". Ein überzeugter Nationalsozialist ist Schmitt indessen nie gewesen, das belegen schon die Äußerungen des völkischen Staatsrechtlehrers Otto Koellreuter, der Schmitts Etatismus aus dessen "mangelndem Interesse für die völkische Substanz" erklärte. Wenn Schmitt schon kein Prophet des "Tausendjährigen Reichs" war, so stellt sich doch die Frage, welche Herrschaftsideen ihm statt dessen vor Augen schwebten. Anders formuliert: Ist die Verfassungstheorie, die Schmitt vor 1933 vertreten hat, als konsistente Antwort auf die damalige Legitimitätskrise der Weimarer Republik zu verstehen? Will man dieser Frage näherkommen, so lohnt es sich, den Bogen zwischen Werk und (politischem) Wirken Carl Schmitts zu schlagen.

Als der 33jährige 1921 (er war damals schon Professor in Greifswald) sein Buch "Die Diktatur" veröffentlichte, konnte er noch nicht ahnen, daß dieses Werk sich knapp zehn Jahre später zur "Bibel der Generäle" entwickeln würde, wie es im sozialdemokratischen Sächsischen Volksblatt hieß. Schmitt hatte darin den grundlegenden Unterschied zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur eingeführt. Dabei war die kommissarische Form gewissermaßen die klassische; schon die römische Republik hatte nach der Vertreibung der Könige Magistrate mit außerordentlicher Vollmacht eingesetzt. Der kommissarische Diktator hatte zwar unbeschränkte Gewalt, er war jedoch an einem klar umrissenen "Auftrag" gebunden und stand damit auf dem Boden der Verfassung. Erst seit der Französischen Revolution und der von ihr in die Praxis umgesetzten Theorie der Volkssouveränität hat sich die Funktion des "Diktators" gewandelt; dieser beruft sich nunmehr nicht auf einen (zeitlich und inhaltlich beschränkten) Auftrag, sondern versteht sich als Vollstrecker des Volkswillens. Da dieser Volkswille jedoch notwendig unbestimmt ist, hat der souveräne Diktator de facto unbeschränkten Spielraum; er ist kein Instrument der Verfassung, sondern deren Schöpfer.

Die in "Die Diktatur" entfalteten Ideen waren nicht bloß die Ideen einer freischwebenden Intelligenz; sie entfalteten in den turbulenten Verhältnissen Weimars ein Höchstmaß an aktuell-politischer Sprengkraft. Schon seit der Gründung der Republik war das Souveränitätsproblem heftig umstritten; man erinnere sich nur an den Kapp-Putsch und Spartakusaufstand. Carl Schmitt hat sich von Anfang an schwer getan mit diesem Verhältnis von Souveränität und Legitimität. Nimmt man seine "Verfassungslehre" (1928) beim Wort, so scheint nur die radikale Ablehnung der Weimarer Verfassung angebracht. Eine Verfassung, so hieß es, ist als "Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit" zu verstehen. Überträgt man dieses Prinzip auf die Weimarer Verfassung, so zeigt sich, daß diese verschiedenartigen Legitimitätsprinzipien einfach nebeneinander stehen. Sie kombiniert das wertneutrale Mehrheitsprinzip mit einer Entscheidung zugunsten "unveräußerbarer" Grundrechte (teils klassisch-liberaler, teils sozial-ökonomischer Art). Außerdem bediene sie sich sowohl plebiszitärer als auch parlamentarischer Legitimitätsformen. Der Parlamentarismus jedoch, so hatte Schmitt bereits 1923 verkündet, sei "tot"; jedenfalls sei er mit der modernen Massendemokratie und ihrer Verbändeherrschaft unvereinbar. Zieht man die Summe aus diesen Erkenntnissen (und das tat Schmitt!), so kann man nicht umhin, die Weimarer Verfassung als uneinheitliches und inkonsistentes Gebilde zu bewerten.

Trotzdem hat er sich am Anfang der Republik weitgehend auf den Boden der rechtspositivistischen Tatsachen gestellt. Wenn sich die Weimarer Gründerväter schon entschieden hatten, dann doch am ehesten für die repräsentative Demokratie mit Gewaltenteilung. Der "Notverordnungsartikel" könne dabei als nützliche Ergänzung gesehen werden; er diene dazu, in Zeiten von Wirren und Unruhen ein Mindestmaß an politischer Stabilität zu gewährleisten. Die Notverordnungspraxis könne aber höchstens eine kommissarische Diktatur begründen; Schmitt ging in seinem Nachwort zum Artikel 48 der Reichsverfassung gar so weit, zu behaupten, daß "die Entscheidung über öffentliche Sicherheit und Ordnung sich nur im Hinblick auf die Verfassung selbst" bestimmen läßt. Im Grunde hat Schmitt sich bis zum definitiven Ende der Weimarer Republik stets auf den Standpunkt gestellt, daß die Verfassung als letzte Möglichkeit, Recht und Ordnung zu handhaben, unantastbar sei. Zwar hatte er sich mit seiner Schrift "Der Hüter der Verfassung" längst von der Parteiendemokratie verabschiedet und für den Reichspräsidenten als "Verfassungskern" plädiert, aber erhalten wollte er die Verfassung immerhin.

Die Selbstbekundungen Schmitts, er habe bis zuletzt auf dem Boden der Verfassung gestanden, machen exemplarisch deutlich, wie er sich in seiner eigenen Dialektik verstrickte. Erforderte der theoretische Unterschied zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur schon einige scholastische Fertigkeiten, so war er in der verworrenen Lage der Weimarer Republik schon gar nicht mehr eindeutig zu treffen. Offenkundig war jedenfalls, daß Regierungskreise um General Schleicher und Meissner, den Kabinettssekretär Hindenburgs, "Die Diktatur" etwas bedenkenloser rezipierten, als es Schmitt (damals) im Sinn hatte. Die Gruppe um Schleicher vertrat die Meinung – so läßt sich bei Koenen nachlesen –, "daß man in Fortbildung der Praxis den Artikel 48 auch zur Verfassungsänderung" gebrauchen könne. Dabei verstand es sich von selbst, daß eine solche "Fortbildung" von namhaften Juristen begutachtet werden sollte. Dabei war zuerst an Carl Schmitt gedacht.

Der Sturz des letzten parlamentarisch geführten Kabinetts der Weimarer Republik markierte den Anfang von Schmitts sturmhaft verlaufender Politberater-Karriere. Neben der von der Regierung dringend gebrauchten Begutachtung des Zustimmungsgesetzes zum Young-Plan ging es vorwiegend um die verfassungsrechtliche Abstützung der Notverordnungspraxis, an der seit der Installierung des Kabinetts Brüning kein Weg mehr vorbeizuführen schien. Daß Schmitt , jetzt vorwiegend in seiner Funktion als Regierungsberater, rasch ins Sperrfeuer der politischen und staatsrechtlichen Kritik geriet, mochte im Klima allgemeiner Polarisierung noch hingehen. Viel brisanter war jedoch, daß diese Kritik staatsrechtliche Grundsätze zu verteidigen vorgab, die angeblich Schmitt auch vertreten hatte, nämlich den Erhalt des Verfassungsstaates und eine beschränkte Handhabung des Notverordnungsrechts. Andreas Koenen hebt hier zu Recht die Bedeutung der Staatrechtslehrertagung Ende 1931 in Halle hervor, die ihre Resolutionen gegen die Notverordnungspraxis der Präsidialdiktatur Brünings der Presse zuleitete. Schon im Vorfeld dieser Konferenz hatte es einen Zwischenfall gegeben, der auf einen Frontenwechsel Carl Schmitts hinzudeuten schien. Als der Greifswalder Staatsrechtler Heinrich Herrfahrdt mit seinerForderung nach einer "neuen Regierungsform, die den Aufgaben der Gegenwart gewachsen" sei, andeutete, daß ihm die präsidiale Lösung der Brüning-Kabinette unzureichend erschien, wurde Schmitt vom Reichsinnenministeriums gebeten, diesen Forderungen entgegenzutreten. Das entsprach jedoch nicht Schmitts aktuellen Einsichten. Derselbe Schmitt, der knapp ein Jahr zuvor in einer Rede vor "unübersehbaren und gefährlichen Experimenten mit der Verfassung" gewarnt hatte, schien jetzt bereit, Herrfahrdt zu unterstützen. Daß die Linie von Herrfahrdt schon bald zur offiziellen Reichspolitik werden sollte, zeigte der schon lange vorbereitete "Preußenschlag". Wiederum war es Carl Schmitt vorbehalten, hier federführend tätig zu werden; er war es, der im Rechtsstreit vor dem Leipziger Staatsgerichtshof die Sache des Reiches verteidigte.

Kehren wir zurück zu der Ausgangsfrage, nämlich, ob Schmitt in seinem staatsrechtlichen Werk und seinem politischen Wirken Konsistenz bescheinigt werden kann, so scheint die Antwort einfach: Carl Schmitt verfügte nicht über ein grand design in Sachen konstitutioneller Reform. Er hat nicht, wie etwa Max Weber, von Anfang an auf die plebiszitäre (charismatische) Komponente gesetzt. Erst als die Sicherheitslage des Reiches in einen permanenten Bürgerkrieg zu entarten schien, hat er sich eindeutig für den Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung entschieden. Ob es hier tatsächlich um die Weimarer Verfassung ging oder um deren präsidiale Bestimmungen, darüber hat Schmitt nie explizit Klarheit verschafft. Im Lichte seiner Kritik an Pluralismus und Parteienwirtschaft dürfen wir vom letzten ausgehen. Obwohl der "Reichspräsident als Hüter der Verfassung" nur im Namen dieser Verfassung und nicht als neuer Souverän auftreten sollte, war diese Differenz in der Praxis schwer beizubehalten. Carl Schmitt, der sich den jeweiligen Planspielen des Schicksals willig auslieferte, muß mindestens geahnt haben, daß seine Politberatertätigkeit nicht ganz sauber war. Doch vielleicht wollte er am eigenen Wirken vorführen, was "politischer Occasionalismus" hieß. Da zeigt sich, daß unsere heutigen Balkan-Krieger, die sich mit ihrer pazifistischen Vergangenheit so schwer tun, vom "bösen alten Mann aus Plettenberg" noch viel lernen können.


 
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