© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Otfried Preußler: Der Kinderbuchautor über die "magische Phase" seiner jungen Leser, die Rechtschreibreform und die Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat
"Kinder sind mein wichtigstes Publikum, ich möchte ihm nicht untreu werden"
Irmhild Boßdorf

Herr Preußler, Sie sind der bekannteste und meistgelesene deutsche Kinderbuchautor der Nachkriegszeit. Was hat Sie auf diesen Weg gebracht?

Preußler: Ich bin 1949 aus sowjetischer Gefangenschaft nach Stephanskirchen bei Rosenheim gekommen. Dorthin hatte es meine Verlobte und ihre Familie nach der Vertreibung aus unserer Heimatstadt Reichenberg verschlagen. Wir haben zunächst geheiratet; und da wir von etwas leben mußten, habe ich angefangen, nebenbei für den Kinderfunk zu schreiben. Damit konnte ich auch meine Ausbildung zum Volksschullehrer finanzieren. Als "Schulmeister" – eine Bezeichnung, auf die ich Wert lege – habe ich mein späteres Publikum entdeckt: die Kinder. Geschichten, wie ich sie in meinem Repertoire hatte, sind bei den 52 Kindern in meiner Schulklasse gut angekommen. Und so entstand 1956 mein erstes Buch, "Der kleine Wassermann", bei dem die Kinder heftig miterzählt haben. Beim Aufschreiben merkte ich, daß es eine schwierige Sache ist, lebendig erzählte Geschichten in Buchstaben und Wörter zu übertragen. Ich habe dabei die Kinder nicht um Kritik gebeten, ich habe ihre Reaktionen beobachtet, denn Kinder sind nur äußerst schwer durch Lektüre zu manipulieren.

Ist es einfacher für Kinder als für Erwachsene zu schreiben?

Preußler: Da bin ich arrogant: Die meisten Heroen unserer Literatur haben es nicht geschafft, für Kinder zu schreiben. Es ist eine Frage der Begabung und der Vorlieben: Ich sehe mich als Kindergeschichtenerzähler, Kinder sind mir mein wichtigstes Publikum, ich möchte ihm auch nicht untreu werden. Dabei bin ich schon sehr früh erwachsen geworden, habe mit knapp einundzwanzig eine Kompanie im Feld geführt. Da war man nach damaligem Recht noch nicht einmal großjährig. Für ewige Kindheit blieb da keine Zeit. Aber ich habe noch eine sehr gute Verbindung zu meiner Kinderzeit. Das mag auch daran liegen, daß man uns aus unserer deutsch-böhmischen Heimat vertrieben hat und ich mich schreibend dorthin zurück erinnere. Ein "Mitarbeiter" schaut mir beim Schreiben immer über die Schulter: Das ist der kleine Junge, der ich einmal gewesen bin.

Sie haben ja schon Generationen von Kindern begeistert mit ihren Geschichten. Wie erklärt sich Ihr Erfolg, obwohl sich doch in deutschen Kinderzimmern in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel geändert hat?

Preußler: Das ist leicht zu beantworten: Die Kinder haben sich äußerlich verändert, die Welt um sie herum ist anders geworden. Aber im Grunde genommen sind alle Kinder eines geblieben: Menschen in der Startphase, in der "magischen Phase" ihres Lebens – ausgestattet mit einem natürlichen Optimismus und einer ebenso natürlichen Neugier. Sie können mit Stöcken reden und Tannenzapfen zum Leben erwecken. Das ist auch der Grund dafür, daß meine Kinderbücher den Weg in die ganze Welt gefunden haben. In Japan werden sie ebenso gerne gelesen wie in China, der slawischen und der angelsächsischen Welt. Alle Kinder auf einer bestimmten Entwicklungsstufe interessieren sich für die gleichen Stoffe.

Sie ergreifen mit Ihrer Literatur also die Seele von Kindern.

Preußler: Ja, aber ohne es gewollt zu haben. Ich habe wirklich geschrieben, weil es mir Spaß gemacht hat.

Warum gelingt dies so vielen Kinderbuchautoren nicht?

Preußler: Man darf nicht meinen, daß man Kinderbücher mit der linken Hand schreiben kann. Ein Kinderbuchautor muß mit Leib und Seele dabei sein, Lebenskraft darangeben. Das kann eigentlich nur jemand, der bedächtig schreibt. Ich bin glücklicherweise nicht gezwungen gewesen, viel zu produzieren, weil ich meinen Beruf als Schulmeister hatte. Da konnte ich es mir leisten, auch einmal gegen den Trend zu schreiben. Ich hätte aber nie erwartet, daß meine Bücher dieses große Echo finden würden. Es hat in der Kinderliteratur auch eine ganze Reihe von Trends gegeben, denen ich mich verweigert habe. Ich gehöre zu den wenigen, die nach ‘68 diese "Kindsein ist mies" - Welle nicht mitgemacht haben. Dafür mußte ich auch einiges einstecken an törichten bis bösartigen Kommentaren.

In Ihren Kinderbüchern werden Probleme der Zeit nicht aufgegriffen, warum nicht?

Preußler: Für Kinder ist die Welt weitgehend noch schön und hell und voller Überraschungen. Ich möchte ausdrücklich die vertriebenen Kinder aus dem Kosovo oder jene Kinder ausnehmen, die damals die Schrecknisse der Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten miterlebt haben; aber unter normalen Verhältnissen sind Kinder voller Zutrauen, auch in die eigenen Kräfte. Es gibt eine sehr leicht erkennbare, "Sauerkitsch"- oder "Bitterkitsch"-Literatur, wo den Kindern zugemutet wird, die Probleme der Erwachsenen zu lösen, indem man diese auf sie überwälzt, ob das Ehekrisen sind oder die Frage des Atomkriegs. Ich halte es schlicht für in-fam, Kinder mit Problemen zu konfrontieren, die man als Erwachsener selbst nicht lösen kann.

Wie sollen Kinder denn auf solche Schwierigkeiten vorbereitet werden?

Preußler: Es ist nicht nur Erziehung, sondern eine grundlegende Herzensbildung, die mir wichtig erscheint. Meine Eltern, die noch in der österreichisch-ungarischen Monarchie aufgewachsen sind und dann die Vertreibung erlebt haben, hätten nie vorhersehen können, wie sich die Welt einmal darstellt, aber indem sie uns eine rechtschaffene Erziehung haben angedeihen lassen, haben sie das Potential dafür geschaffen, daß wir mit den Problemen, die damals noch niemand gekannt hat, auf unsere Weise fertig geworden sind. Wenn man Kinder ein paar grundlegende Tugenden lehrt, dann gibt man ihnen viel mehr für die Zukunft mit, als wenn man sie etwa mit den Schrecknissen eines zukünftigen Atomkriegs konfrontiert. Menschen, die lachen können – auch über sich selber –, die über Phantasie verfügen und auf eine elementare Weise dazu angehalten werden, Menschlichkeit zu üben, die werden mit den Problemen der Zukunft schon fertig werden, die wir heute noch nicht kennen.

In Ihren Büchern spürt man deutlich slawische Einflüsse. Ist das für Sie die reizvollere Kultur?

Preußler: Die bekanntere. Ich habe sieben Jahre meines Lebens in Rußland verbracht, davon fünf hinter Stacheldraht, und habe, wie viele meiner Mitgefangenen, die das überstanden haben, eine starke Beziehung zu diesem Land, insbesondere zu seiner Landschaft. Darüber hinaus: Warum soll ich mir als Mitteleuropäer meine Themen nicht aus dem östlichen Nachbarschaftsbereich holen? Ich habe nur eine einzige Schulstunde in Französisch gehabt, nach 1938 mußten wir Englisch lernen. Es tut mir immer noch leid, daß ich mit romanischen Sprachen meine Schwierigkeiten habe. Die slawische Kultur interessiert mich einfach besonders. Der Wassermann beispielsweise ist eine ethnologische Leitfigur im westslawisch-ostdeutschen Grenzbereich, den es in dieser Ausprägung sonst nirgends gibt. In manchen Büchern habe ich ganz bewußt auf jene Überlieferungen zurückgegriffen, die ich als Kind aufgenommen hatte. Ich mache keinen Hehl daraus, daß meine Interessen dort drüben liegen.

Auch "Krabat" geht auf eine slawische Überlieferung zurück, ein Buch, das sehr viele, gerade auch sehr viele erwachsene Leser in seinen Bann zieht. Was hat es mit diesem Werk auf sich?

Preußler: Mit dem "Krabat" ist es eine Geschichte für sich. Das ist ein Stoff, den ich schon aus meiner Kinderzeit kenne. Ich habe mir damals aber nur diesen merkwürdigen Namen gemerkt und die Tatsache, daß in jedem Jahr auf der Mühle ein Geselle verschwindet. Es kamen dann ein paar Erlebnisse dazu: Ich bin als Soldat einmal in ein wendisches Dorf in der Lausitz geraten, wo eine alte Frau vor der Haustür stand und nichts verstand von dem, was wir sie auf Deutsch fragten. Anfang der 50er Jahre gelangte dann eine große Kiste mit Büchern aus der damaligen Tschechoslowakei in die internationale Jugendbibliothek nach München, die ich durchsehen sollte. Da war ein Buch von Nowak Neumann dabei, "Meister Krabat" in tschechischer Sprache. Das hat mich angeregt, die Geschichte neu und mit meinen Mitteln zu erzählen. Es war ein langer Prozeß, der zehn Jahre gedauert hat. Ich habe mich eingearbeitet in wendische bzw. sorbische Volkskunde, habe mich mit Mühlenbüchern, teilweise aus dem 17. Jahrhundert, und dem damaligen Rechtsgefüge beschäftigt. Dann tauchte plötzlich ein Regimentskamerad von mir auf, den ich längst tot geglaubt hatte. Er war Müller gewesen und gab mir weitere Auskünfte zu diesem Thema. Beim Schreiben habe ich mich auf die Kerngeschichte beschränkt, auf die drei Lehrjahre, die Krabat auf der Schwarzen Mühle verbringen muß, und wie sie auch im Zentrum der ganzen Sage stehen.

Mit Ihren Büchern regen Sie nicht nur die Phantasie von jungen Menschen an, sondern prägen auch ein gewisses Sprachempfinden und nicht zuletzt Sprachwitz.

Preußler: Das mache ich besonders gerne. Man kann "slang" schreiben und meinen, das sei die einzige Sprache, die Kinder verstehen und die sie sprechen. Nur ändert sich die Umgangssprache alle paar Jahre – und zwar grundlegend. Es ist die Frage, ob man dem nachgeben soll. Ich bin durch meine Mutter geprägt, die Deutschlehrerin war und mit uns Kindern sehr viel geübt hat, wie man Sprache interessant verwenden kann. Ich bemühe mich, auch für Kinder ein literaturfähiges Deutsch zu schreiben, natürlich im Wortschatz ein bißchen komprimiert, im Satzbau so einfach wie möglich, aber immer ein bißchen anspruchsvoller, als man das sprachliche Vermögen in der jeweiligen Altersstufe einzuschätzen versucht ist. Es hat sich herausgestellt, daß das richtig war. Unterdessen wird längst in zahlreichen Schulen mit meinen Büchern gearbeitet. Das zeigt mir, daß Kinder durchaus empfänglich sind für eine durchgeformte Sprache, die auch ohne Fremdwörter auskommt. Selbst eine Kasperlgeschichte kann man so oder so zu Papier bringen.

Können Sie sich vorstellen, daß Sie den literarischen Geschmack von Kindern prägen?

Preußler: Ich hoffe es, wobei ich von meiner eigenen Erfahrung ausgehe. Ich bin durch die lebendigen Geschichten, die zuhause, hauptsächlich von meiner Großmutter erzählt wurden, aber auch von der Bücherei meines Vaters geprägt worden, die dann 1945 auf die Straße geworfen wurde. Wir hatten unbegrenzt Zugang zu dieser Bibliothek. Es hat natürlich immer Kinder gegeben, die nicht lesen, aber ich lasse mir die Hoffnung nicht nehmen, daß Lesen eine Zukunft hat.

Hat die Lesekultur durch die neuen Medien nicht enorm gelitten?

Preußler: Die Kultur hat insgesamt gelitten. Ich bin jedoch auch hier ein unverbesserlicher Optimist: Mag sein, daß heutzutage tatsächlich weniger gelesen wird als früher, aber ich gebe noch immer der Literatur, insbesondere für Kinder, eine große Chance, weil es sich da – wie Gorki so schön gesagt hat – um "Brot für die Seele" handelt. Was Bücher leisten, kann durch nichts ersetzt werden. Es ist aber auch eine Frage des Schulunterrichts: Wo Lehrer noch selber gerne lesen, wo in ihrem Leben und in ihrem Seelenhaushalt Bücher noch etwas bedeuten, da können sie auch entsprechend auf die Kinder einwirken. So habe ich beispielsweise als Schulmeister jedes neue Buch, das in unsere Schulbücherei kam, von einem Kind lesen und dann in der Klasse vorstellen lassen. Auf diese Weise sind Bücher für uns zu einem wichtigen Gesprächsstoff geworden.

Aber nimmt nicht die Leselust auch bei den Lehrern mittlerweile ab? Kommt die Lesekultur in den Schulen nicht insgesamt zu kurz?

Preußler: In der jüngeren Vergangenheit hat auch auf diesem Gebiet sehr viel an Verengung und Verfälschung stattgefunden. Ich halte es nach wie vor für katastrophal, daß Menschen in Deutschland Abitur machen, die noch nie etwas von Walther von der Vogelweide gelesen haben. Manche haben wohl noch nicht einmal seinen Namen gehört. Ich bin leider kein Kulturpolitiker. Sonst stünde ich zu vielen Dingen, auch zur neuen Rechtschreibung, einfach in Opposition.

Die Rechtschreibreform ist ein Beitrag dazu, unsere Identität auszuhöhlen, genauso wie die Tatsache, daß man heute keine Fraktur mehr lernt und daher viele Texte einfach nicht mehr lesen kann. Die Rechtschreibreform – die "Reform" muß ich in Anführungsstriche setzen – ist so absurd wie überflüssig. Was mich am meisten geärgert hat, ist die Art und Weise, wie diese sogenannte Reform verordnet worden ist – daß sich Kultusminister nicht geschämt haben, uns praktisch ohne jegliche demokratische Legitimation ein solches Gesetz überzustülpen.

Soll man die Sprache überhaupt gesetzlich reglementieren?

Preußler: Schon der Duden war der Versuch, eine Norm zu schaffen für verschiedene Schreibweisen. Dagegen habe ich gar nichts. Meine Rechtschreibreform läge jedoch ganz woanders. Die hätte darin gelegen, daß man das Rechtschreiben nicht mehr so stark überbewertet. Daß man also in Fächern, die nicht unbedingt sprachbezogen sind, eine gewisse Vielfalt gelten läßt, wenn man nur weiß, was der Schüler meint, der das schreibt.

Was wir brauchen, ist eine Sprachreform: Wir müssen weg von diesem Marketingdeutsch. Ich ärgere mich nicht mehr darüber, ich spotte nur noch, wenn ich sehe, wie Leute, die kaum ein Wort Englisch schreiben können, mit Amerikanismen um sich werfen. Das ist einfach nur lächerlich. Das würde kein Franzose, auch kein Russe tun. Aber wir haben wohl die Verhältnisse, die wir verdienen.

Engagieren Sie sich auch über das Schreiben hinaus für Kinder?

Preußler: Man kann nicht nur schreiben, man muß auch leben. Viele Schulklassen schicken mir Briefe. Früher habe ich allen geantwortet, möglichst innerhalb eines Tages. Das ist mir längst nicht mehr möglich. Trotzdem versuchen wir, jedem Leser und jeder Schulklasse innerhalb angemessener Zeit zu antworten. Das verschafft mir die Möglichkeit, mich stärker auf meine eigentliche Arbeit zu konzentrieren. Ich habe noch sehr viel zu schreiben, davon möchte ich noch einiges fertigbringen.

Allerdings habe ich eine Sache, für die ich mich sehr einsetze, das ist eine orthopädische Kinderklinik im nahen Aschau, mit der ich seit 30 Jahren in Verbindung stehe. Diese Beziehungen wurden immer enger. Bei Beginn der Bürgerkriege auf dem Balkan haben ein paar Freunde und ich ein Hilfswerk gegründet, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, verwundeten Kindern zu helfen, die in der Klinik gelandet sind. Unterdessen haben sich die Aktivitäten des Hilfswerks ausgeweitet. So konnten wir die ganze Ausstattung der neuen Rehabilitationsanlage aus unseren Mitteln bestreiten. Hinzugekommen ist die "Otfried-Preußler-Stiftung Familienhilfe", die bedürftigen Familienangehörigen der kleinen Patienten bei der Bezahlung ihrer Beherbergungskosten hilft. Das ist eine Aufgabe, die mich schon sehr ausfüllt.

Sie sind im vergangenen Oktober 75 geworden. War das ein Grund zur Besinnung oder mehr zum Feiern?

Preußler: Wenn ich noch einmal 74 wäre, würde ich gleich zu meinem 76. Geburtstag springen. Nein, ich darf nicht klagen. Von einem gewissen Punkt an wird das, was man Rummel nennt, ein wenig lästig. Es gibt im weiteren und näheren Bereich keine Schuleinweihung, keinen Ferienbeginn, wo der Preußler nicht reden soll. Mein Vater konnte auch nicht "Nein" sagen, das hat wahrscheinlich auf mich abgefärbt.

Durch Ihre Herkunft, aber auch durch Ihr literarisches Werk, ich denke da beispielsweise an die Übertragung des "Kater Mikesch", gelten Sie als ein Mittler zwischen der slawischen und der deutschen Kulturwelt. Verstehen Sie sich auch als solcher?

Preußler: Diese Mittlerrolle zählt heute nicht mehr. Heute zählt nur, wenn Sie sagen: "Was scheren mich die Leiden und Verluste der deutschen Heimatvertriebenen – Schwamm drüber!" Das kann ich nicht. Die Vertreibung war ein himmelschreiendes Verbrechen. Das empfinden auch viele meiner tschechischen Freunde nicht anders, denen es angesichts der geschichtlichen Verdrängung ebenso unbehaglich ist wie mir. Es sind Freunde, die ich erst nach der Vertreibung, bei meinen zahlreichen Besuchen in Böhmen und auch in Reichenberg kennengelernt habe. Seinerzeit hatten wir in meinem Geburtsort überhaupt keinen Kontakt zu den Kindern der tschechischen Beamten gehabt, nicht einmal im Streit.

Glauben Sie, daß noch einmal ein wohlwollender Ton in die deutsch-tschechische Debatte kommen könnte – das deutsch-tschechische Verhältnisse war doch einmal recht freundschaftlich?

Preußler: Ja, die längste Zeit sogar. Ich mache den jüngeren Tschechen gar keinen Vorwurf daraus, daß sie vieles nicht wahrhaben wollen, was damals geschehen ist. Woher sollten sie es auch wissen? Allerdings mache ich unseren Politikern den Vorwurf – und da kann ich selbst Roman Herzog nicht ausnehmen –, Leuten wie Vaclav Havel auf den Leim gegangen zu sein, der ein Staatsschauspieler von höchsten Graden ist. Es gibt furchtbar viel Verlogenheit auf der einen und furchtbar viel Unkenntnis auf der anderen Seite. Schon das Wort "Sudetendeutsche" ist im Deutschland von heute für viele ein Reizwort. Dabei ist es einfach eine Notwendigkeit für die Deutschen innerhalb der böhmischen Länder gewesen, einen Begriff für ihre Volksgruppe zu finden. Deutsch-Böhmen konnte man nicht sagen, weil diese Bezeichnung ins Tschechische nicht übersetzbar ist. Es gibt nämlich dort keine Möglichkeit, zwischen "Böhmen" und "Tschechei" zu differenzieren. So kommt es beispielsweise dazu, daß das berühmte böhmische Glas meiner Heimat heute auch im historischen Rückblick nur als tschechisches Glas firmiert.

Sollte es eine Wiedergutmachung für die sudetendeutschen Vertriebenen geben?

Preußler: Ich habe unmittelbar nach dem Staatsbankrott dringend davor gewarnt, materielle Forderungen zu stellen. Dadurch wurde lediglich den tschechischen Chauvinisten Material geliefert. Ich kenne keinen Menschen aus meinem Bekanntenkreis, der ernsthaft mit dem Gedanken spielen würde, jemals wieder nach Böhmen zurückzukehren. Ich war mit meiner Frau seit 1965 Dutzende Male in Reichenberg. Und uns war klar, daß es da gar nichts gibt, was man uns zurückgeben könnte. Trotzdem materielle Wiedergutmachung zu fordern, habe ich politisch für eine hochgradige Dummheit gehalten. Man hätte fordern müssen: "Zieht jene noch lebenden Unholde, die sich als Missetäter bei der Vertreibung hervorgetan haben, zur Verantwortung, wie es nach Recht und Gesetz geschehen müßte!"

Immerhin hat es die "FAZ" kürzlich gewagt, erstmals Hitler, Stalin und Benesch in einem Atemzug zu nennen.

Preußler: Vergessen Sie nicht Herrn Milosevic! Sie alle sind blutige Kriegs- und Nachkriegsverbrecher größten Stils, Völkermörder mit einem Wort, denen Abscheu und allgemeine Verachtung gebührt.

Haben Sie sich auf die Spurensuche Ihrer eigenen Vergangenheit gemacht?

Preußler: Ich war mit meiner Frau in meinem Elternhaus, wir wurden hineingebeten. Da hingen noch die Bilder an der Wand, die mein Vater von seinen Freunden geschenkt bekommen hatte. Unser bescheidener Teppich lag noch da, das Klavier stand noch dort. Das war ein merkwürdiges Erlebnis. Damals haben wir endgültig gesagt: Schluß, aus. Meine Frau hat Fotos von unserem Haus und unserem Garten in Haidholzen gezeigt. Damit war die Situation gerettet. Ich will wirklich nichts von den Tschechen, ich will nur, daß die historische Gerechtigkeit walten möge. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

Den Deutschen unserer Generation sagen London, Paris oder New York viel mehr als die slawische Welt. Woran liegt das?

Preußler: Das ist nicht nur eine politische Folge des Eisernen Vorhangs, sondern auch die Folge einer Sprachbarriere, die für mich jedoch nicht besteht. Ich habe vom Tschechischen umgelernt auf Russisch und verstehe nun praktisch alles, was von Serbien bis nach Masuren hinauf gesprochen wird. Die Westslawen sind nahe Verwandte von uns. Ich habe damals, als ich den "Kater Mikesch" übersetzte, überhaupt erst gemerkt, wie nahe uns Sudetendeutschen auch die Überlieferung der Tschechen ist, wesentlich näher als die der Friesen.

Was wird von der deutschen Kultur in Böhmen noch bestehen bleiben?

Preußler: Ich weiß es nicht. Böhmen hat alle Aussichten, ein Museum europäischer Kultur zu werden, aber das ist ein bißchen wenig. Die Schlösser, Kirchen und Klöster sind noch da, zum großen Teil auch mit Hilfe der "bösen Vertriebenen" wieder instandgesetzt. Die Sudetendeutschen haben ja nach dem Krieg nicht nur angefangen zu fordern, sondern auch zu fördern.

Kann es denn auch eine lebendige und nicht nur museale deutsch-böhmische Kultur geben?

Preußler: Ich beobachte da noch sehr viel Vitalität. Es gibt zahlreiche kulturelle Begegnungen, aber bislang spielt sich dies alles unterhalb der offiziellen Ebene ab. Hoffen wir, daß es damit nicht für alle Zeit sein Bewenden hat.

 

Otfried Preußler, geboren am 20. Oktober 1923 im nordböhmischen Reichenberg, ging nach Kriegsteilnahme und fünfjähriger sowjetischer Gefangenschaft in den Schuldienst und arbeitete nebenbei für den Kinderrundfunk. Sein erstes Kinderbuch, "Der kleine Wassermann" erschien 1956. Von seinen mittlerweile etwa 30 Büchern sind die bekanntesten "Die kleine Hexe", "Der Räuber Hotzenplotz" und "Das kleine Gespenst". Mit "Krabat" erreichte er auch eine breite, ältere Leserschaft. Seine Werke wurden in 52 Sprachen übersetzt und erschienen bislang in einer Gesamtauflage von mehr als 40 Millionen. Gemeinsam mit seiner Frau lebt Otfried Preußler heute in der Nähe von Rosenheim.


 
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