© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Tatort Brüssel
von Bruno Bandulet

Seit den achtziger Jahren haben sich die Deutschen zunehmend damit abgefunden, daß sie nicht nur von den Politikern in Bonn, sondern auch von anonymen, hauptsächlich in Brüssel angesiedelten Behörden regiert werden.

"Europa", wie diese Zusammenballung von Macht oft genannt wird, existiert. Aber kaum jemand weiß, in welcher Form. Die neue Obrigkeit bleibt im Schatten. Die Berufseuropäer sind gelegentlich im Fernsehen zu besichtigen, wie sie mit schweren Limousinen vor Konferenzgebäuden vorfahren, wie sie auf Pressekonferenzen mehr verschweigen als sagen, wie sie sich im Dienste Europas die Nächte um die Ohren schlagen. Auch für den überdurchschnittlich gut informierten Bürger bleibt dabei im dunkeln, wer wofür zuständig ist, wer Regierung spielt, und wer die Gesetze macht, wer wen gewählt oder eingesetzt hat. Selbst über die genaue Bezeichnung dieses modernen Byzanz herrscht Ungewißheit: heißt es nun EU oder EG oder beides gleichzeitig? (…)

Die Geschichte der europäischen Integration begann 1951 in Paris, mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. "Wer nicht mehr frei über Energie und Stahl verfügt, kann keinen Krieg mehr erklären", sagte damals der französische Außenminister Robert Schuman und meinte damit Deutschland. Am Anfang der europäischen Zusammenarbeit stand nichts anderes als der Wunsch vor allem Frankreichs, das deutsche Wirtschaftspotential unter Kontrolle zu bekommen.

Am 1. Januar 1958 traten die Verträge von Rom in Kraft, die bis heute gelten. Zur Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt, kamen nun die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Sechs Nationen bildeten den Kern der Zusammenarbeit: Frankreich, Deutschland, Italien und die drei Benelux-Staaten. 1967 wurden die Verwaltungen der drei bis dahin getrennten Gemeinschaften zusammengelegt. Die vereinigte EG-Kommission nahm ihre Arbeit auf.

Erst im Februar 1992 beschlossen die Staats- und Regierungschefs im holländischen Maastricht, nicht nur den Euro, sondern auch eine neue Sprachregelung einzuführen: aus den "Gemeinschaften" wurde jetzt – im Singular – die Europäische Gemeinschaft. Dazu wurde das bislang wichtigste Abkommen, das über die EWG, in EG-Vertrag umbenannt. (…)

Kaum war der Vertrag von Maastricht ratifiziert, sprachen die Medien unisono nur noch von der Europäischen Union. Tatsächlich gab es bei manchen Zeitungen Anweisung von oben, die Bezeichnung EG nicht mehr zu verwenden. EU klang besser. Europäische Union klang fast so gewichtig wie "Vereinigte Staaten von Amerika". EU war nicht oder noch nicht negativ besetzt.

Dabei wurden in Maastricht am 7. Februar 1992 zwei Verträge geschlossen: die Neufassung des Vertrages zur Gründung der EG sowie ein Vertrag über die Europäische Union.

In der offiziellen Literatur wird es so dargestellt: Die Europäische Union – sie wird mit einem gemeinsamen Haus verglichen – ruht auf drei Säulen. Die erste Säule ist die EG mit der Brüsseler Kommission, mit ihrer Agrarpolitik, mit dem Binnenmarkt, mit den Richtlinien und Verordnungen. Es gibt demnach keine "EU-Kommission", sie heißt vielmehr Europäische Kommission. Und sie ist zuständig für die erste Säule.

Die zweite Säule besteht aus der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die dritte Säule aus der Justiz- und Innenpolitik. Hier arbeiten die Regierungen in den Bereichen Asyl, Grenzkontrollen, Kampf gegen Drogen und organisierte Kriminalität zusammen – oder versuchen es zumindest – und betreiben den Aufbau einer gemeinsamen Polizeibehörde namens Europol.

Ergo: Die Säulen zwei und drei stehen erst seit dem 1. November 1993, als der Vertrag von Maastricht in Kraft trat.

EG und EU werden manchmal synonym verwendet, wir müssen sie aber auch deswegen auseinanderhalten, weil sich unsere Kritik an der Brüsseler Bürokratie und am Demokratiedefizit (…) immer auf den EG-Bereich bezieht.

Gegen eine Zusammenarbeit in der Außen- und Innenpolitik ist schließlich nichts einzuwenden. Sie ist sogar ausdrücklich zu begrüßen. Denn die Völker Europas haben gemeinsame Interessen, die sie nicht zuletzt gegenüber den USA und Rußland vertreten müssen. Eine Rückkehr zur traditionellen Machtpolitik der Nationalstaaten wäre ein Desaster für den Kontinent.

Deswegen müssen wir aber kein Europa wollen, in dem die Demokratie Stück für Stück wegbricht, in dem Macht anonym und ohne klare Legitimation ausgeübt wird. (…)

Demokratie und Rechtsstaat sind ohne saubere Gewaltentrennung nicht viel wert. Dazu gehören eine Legislative, die Gesetze einbringt und verabschiedet, eine Exekutive, die regiert, und eine Judikative, die Recht spricht – wo nötig, auch gegen die Obrigkeit. Nur die Trennung der Gewalten kann Machtmißbrauch verhindern und die Freiheit schützen.

Mit Demokratie und Gewaltenteilung ist es in diesem EG-Europa schlecht bestellt. Würde die EG einen Aufnahmeantrag an die EU stellen, würde ihr Beitritt höchstwahrscheinlich abgelehnt.

Die EG würde in eine Gemeinschaft demokratischer Staaten nicht passen, weil ihre Exekutive (die Kommission nämlich) von keinem Volk und keinem Parlament gewählt wurde, weil die Legislative (das ist der Rat der Europäischen Union) aus Regierungsvertretern besteht, und weil das Europäische Parlament, das eigentlich Legislative sein müßte, nicht einmal das Recht hat, Gesetze einzubringen. Das darf nur die Kommission, deren Kompetenzen im Laufe der Zeit dramatisch ausgeweitet wurden. Europa wurde haarscharf an der Demokratie vorbei gebaut. Verkehrte Welt. Die Macht in Brüssel ist demokratisch nicht legitimiert, der Bundestag wesentlicher Rechte beraubt, der EG-Vertrag – besonders nach seiner Fortschreibung in Maastricht – ein "Ermächtigungsgesetz" (…)

Im Zentrum des Systems stehen die 20 Kommissare. Sie werden von den Regierungen ernannt und vom Europäischen Parlament bestätigt. Die fünf großen Mitgliedsländer sind mit je zwei, die übrigen mit je einem Kommissar vertreten. Sie sind, jedenfalls der Theorie nach, unabhängig und dürfen keine Weisungen entgegennehmen.

Die Kommission führt den Haushalt in eigener Verantwortung, sie entscheidet über Fusionen und Beihilfen an Unternehmen, sie kann hohe Bußgelder – selbst im dreistelligen Millionenbereich – verhängen, sie kann beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen Mitgliedsländer erheben, die ihrer Meinung nach gegen den EG-Vertrag verstoßen oder EG-Gesetze verletzen. Die Kommission ist nicht nur die einzige Instanz in der EG mit Initiativrecht für Gesetze, sie kann auch selbständig Durchführungsbestimmungen und Verwaltungsvorschriften erlassen. Das tut sie vor allem im Bereich des Binnenmarktes und der Agrarpolitik.

In der Kommission die europäische Regierung zu sehen, ist nicht falsch, aber doch nur eingeschränkt richtig. Sie verwaltet viel, regiert jedoch nur in Teilbereichen. Sie kommandiert keine Armee und keine Polizei, sie kann keine Kriege führen und niemanden verhaften lassen. Aber sie besitzt reale Macht, weil sie sehr viel Geld zu verteilen hat, und weil sie mit Tausenden von Rechtsakten pro Jahr in das tägliche Leben von 370 Millionen Menschen eingreift. Die Kommission ist durchaus die heimliche Regierung der EU. Ihr Aufbau entspricht der französischen Verwaltungsstruktur und läßt sich am besten in militärischen Kategorien erklären: Die 20 Kommissare muß man sich als Divisionskommandeure vorstellen, die Vorstände ihrer Kabinette als Stabschefs und die 24 Generaldirektionen als Brigaden, als die Kampftruppen.

Jeder Kommissar führt durch seinen Kabinettschef. Die beiden besprechen sich normalerweise einmal in der Woche. Der Kabinettschef wiederum schreibt Noten an die seinem Kommissar zugeordnete Generaldirektion und bittet diese zum Beispiel um die Ausarbeitung einer bestimmten Verordnung oder Richtlinie. Sie sehen: Die Kleinarbeit der europäischen Gesetzgebung wird in den Generaldirektionen erledigt, wobei eine Generaldirektion auch mehr als einem Kommissar unterstehen kann.

Was in den Generaldirektionen ausgebrütet und zu Papier gebracht wird, läßt sich einteilen in Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen – dies in der Reihenfolge des Gewichts, das die Maßnahmen haben.

Die "Verordnung" ist die stärkste Form der gemeinschaftlichen Rechtsetzung. Sie muß nicht erst noch in nationales Recht umgewandelt werden. Sie ist von allen Mitgliedern der EU unmittelbar anzuwenden. Konkret: Die Bundesbürger müssen sich Gesetzen beugen, an denen ihr frei gewähltes Parlament – der Bundestag – nicht beteiligt war.

Bei den "Richtlinien" handelt es sich um Gemeinschaftsgesetze, die erst noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Das Ziel ist aus Brüssel vorgegeben, die nationalen Parlamente sind verpflichtet zu handeln. Meines Wissens kam es noch nie vor, daß der Bundestag eine Brüsseler Richtlinie abgelehnt oder nicht beachtet hätte. Allenfalls wurde die Umsetzung verschleppt. Dann kann die Kommission vor den Europäischen Gerichtshof gehen, um ein nationales Parlament zu zwingen, die angeordneten Beschlüsse zu fassen. Mehr noch: Wurde eine Brüsseler Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt, kann der betroffene Bürger klagen – so, als sei sie bereits geltendes Recht.

"Entscheidungen", die in Brüssel ergehen, sind ebenfalls verbindlich und können sich an Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen richten.

"Empfehlungen" hingegen sind nicht verbindlich. Auf sie greift die Kommission dort zurück, wo sie nicht zuständig ist oder wo sich die Regierungen nicht einigen konnten. Empfehlungen gestatten manchmal einen Blick in die Zukunft: Sie lassen erkennen, was die Kommission tun würde, wenn sie könnte. "Die Empfehlungen atmen den Geist der Kommission oft am unverfälschtesten", meint dazu der frühere Brüsseler Kabinettschef Manfred Brunner. Zusammen mit den ebenfalls nicht verbindlichen "Stellungnahmen" produziert Brüssel fast unvorstellbare Massen an Rechtsakten und anderen Maßnahmen – Umfang an die zwei Millionen Seiten im Jahr.

Eine bürokratische Großoffensive, vor der der Bundestag sang- und klanglos kapituliert hat. Nur noch Schall und Rauch ist die früher einmal von den Karlsruher Richtern postulierte "Wesentlichkeitstheorie", wonach der Bundestag grundlegende Entscheidungen niemals anderen überlassen darf, sondern selbst treffen muß.

In welchem Umfang demokratische Rechte auf dem Altar Europas geopfert wurden, geht auch aus einer Schätzung hervor, die von dem früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors, dem Vorgänger Santers’, stammt. Delors meinte, daß fast 80% aller Wirtschaftsregeln und 50% aller übrigen Gesetze supranational gesteuert würden – ein Anhaltspunkt dafür, in welchem Ausmaß Regierung durch das Volk und für das Volk abgebaut wurde. Vom Bundestag und seinen Zuständigkeiten ist nur noch die Hälfte übrig!

Kein Zweifel, in der EU wurde über die Jahre hinweg viel Macht von den nationalen Hauptstädten nach Brüssel verlagert. Aber ist die Kommission wirklich unabhängig? Übt jemand hinter den Kulissen Einfluß aus? Die offizielle Lesart lautet: Die Kommissare sind an Weisungen der Regierungen nicht gebunden. Sie haben nichts als das Wohl der Gemeinschaft im Auge. Sie sind die "Hüter" der europäischen Verträge.

Leider sieht die Wirklichkeit etwas anders aus. In Brüssel hat die Großindustrie, wie wir sehen werden, de facto erheblichen Einfluß. Und es existieren durchaus nationale Seilschaften, die sich an der langen Leine ihrer Regierungen bewegen – vor allem der französischen.

Der französischen Elite ist es nicht nur gelungen, die Brüsseler Bürokratie nach Pariser Vorbild zu gestalten, sie verfügt auch über Einwirkungsmöglichkeiten, von denen die braven Deutschen nur träumen können. (…)

Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, daß die Brüsseler Kabinettschefs und die Generaldirektoren, sofern sie Franzosen sind, gleichzeitig den Vorsitz in französischen Regierungskommissionen führen. Eine sehr wirksame Form der Verzahnung von französischen und europäischen Interessen, durch die natürlich die "Unabhängigkeit" der Kommission zur Farce wird. Und eine Praxis, die bei den stets vornehm zurückhaltenden Deutschen undenkbar wäre.

Paris stellt auch immer wieder nationale Beamte nach Brüssel ab. Das tun andere auch, der Unterschied liegt allerdings in der Größenordnung. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden aus der französischen Hauptstadt an die hundert Beamte "herübergeschickt". Sie hatten sich um die neuen Förderprogramme für den Ostblock, eine jetzt kritische Region der Weltpolitik, zu kümmern. Bis das Kanzleramt in Bonn gerade mal vier Beamte – auf Drängen eines deutschen Kabinettschefs – abstellte, vergingen Monate. Tatsache ist, daß der deutsche Einfluß auf die EG-Bürokratie nicht annähernd der Höhe der deutschen Zahlungen oder der Wirtschaftskraft des Landes entspricht.

Ein anderer Aspekt unsichtbarer Macht in Europa ist der Einfluß, den die großen Konzerne in Brüssel ausüben. Sie lassen eigene Leute als Praktikanten bei der Kommission arbeiten. Sie leihen den Generaldirektionen (kostenlos!) Mitarbeiter aus. Und es kommt sogar vor, daß die Unternehmen die Direktiven, von denen sie später betroffen sind, selbst schreiben. Wie praktisch.

 

Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber von "G&M Geopolitik" und Chefredakteur des "DeutschlandBrief" sowie Autor zahlreicher Bücher. Bei seinem Text handelt es sich um einen Auszug aus seinem neuesten Buch "Tatort Brüssel – Das Geld, die Macht, die Bürokraten", das soeben im Wirtschaftsverlag Langen Müller/Herbig, München, erschienen ist.


 
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