© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Italien: Staatspräsidentenwahl wichtiger als Europawahlen
Die Lega Nord steht vor dem Aus
Jakob Kaufmann

Trotz erweiterter Kompetenzen, die das am 13. Juni zu wählende Europäische Parlament haben wird, spielen europapolitische Themen im italienischen Europawahlkampf kaum eine Rolle. Es geht vielmehr um ein inneritalienisches Kräftemessen. Die Europawahl ist den Parteien ein willkommener Test, ein Anlaß, die aktuelle innenpolitische Stärke auszuloten. In den vergangenen Wochen wurden in Italien maßgebliche Schritte zur Veränderung des politischen Systems getan. Die beiden großen Parteienbündnisse im Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Spektrum drängen zu einer bipolaren Parteienlandschaft: Diese würde aber das Aus für alle Kräfte bedeuten, die außerhalb dieser Blöcke stehen oder nicht der Blocklogik folgen wollen. Die Bipolarität sollte, ihren Vertretern zufolge, dem Land nach Jahrzehnten der "Stabilität in der Instabilität" stabile Mehrheiten garantieren. Das politische System der Apenninenhalbinsel bestand bisher jedoch vordringlich aus Parteienabsprachen, mit denen – in einem Land mit so zersplitterter Parteienlandschaft – die Parteizentralen unabhängig vom Wählerwillen immer neue Mehrheiten zusammenbastelten. "Alle Macht der Parteizentrale" war schließlich das Politikverständnis der einst so mächtigen Christdemokratie (DC), die damit 44 Jahre lang den Staat beherrschte und deren Nachfolgeparteien weitgehend noch immer in diesen Maßstäben denken.

Bei einer Volksabstimmung am 18. April hatte die Bevölkerung durch zu geringe Wahlbeteiligung die Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts einstweilen verhindert. Das gab den kleineren Parteien Auftrieb und verschreckte die Großparteien. Diese sahen nun Handlungsbedarf. Und sie handelten schnell und ungewohnt einig am 14. Mai bei der Wahl des neuen italienischen Staatspräsidenten. Die Staatspräsidentenwahl hat für Italien weit größere Auswirkungen als die bevorstehende Europawahl.

Nach dem Zusammenbruch der Ersten Republik unter dem Eindruck des Berliner Mauerfalls auf der kommunistischen und der Schmiergeldskandale auf der christdemokratischen Seite bildeten sich zwei große Parteienbündnisse heraus. Sie sollten, gekoppelt mit einem Wechsel vom Verhältnis- zum Mehrheitswahlrecht, die Zweite Republik begründen. Parallel oder als unmittelbare Konsequenz entstanden aber auch einige kleinere Parteien, die sich nicht diesen Blöcken anschlossen oder nach einigen Jahren der Agonie zur Ersten Republik zurückdrängten. Dazu gehören die 1991 entstandenen Altkommunisten am linken Rand, die 1992 durch ein sensationelles Wahlergebnis in den Polithimmel katapultierte Lega Nord als neue regionalistische Kraft in Norditalien und nicht zuletzt auch die über unzählige Parteien und über beide Blöcke verstreuten Altchristdemokraten.

Einmaliges Wahlbündnis gegensätzlicher Parteien

Letztere versuchte der ehemalige christdemokratische Staatspräsident, Francesco Cossiga (1985-1992), in den beiden vergangenen Jahren mit mäßigem Erfolg, jedoch mit Insistenz und in bester DC-Tradition, bis hin zu Regierungskrisen, aus dem Mitte-Links-Bündnis wie dem Mitte-Rechts-Bündnis herauszubrechen und wieder zu vereinen. Erklärtes Ziel dieser Operation war die Schaffung eines dritten Pols in der politischen Mitte zwischen Links und Rechts. Damit wäre die untergegangene Democrazia Cristiana wiedererstanden und zum entscheidenden Zünglein an der Waage geworden. Die Zweite Republik wäre überwunden und die DC – unter welchem neuen Namen auch immer – wieder die ewige und entscheidende Regierungspartei. Die vollständige Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechtes nach britischem Vorbild galt es daher mit Vehemenz zu verhindern. Und die Alt-DCler erkannten in ihrem Machtgespür, daß mit der Entscheidung über das neue Staatsoberhaupt auch ihr weiteres Schicksal verbunden ist.

Mit der Wahl des neuen, parteilosen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, der laizistisch, aber praktizierender Katholik ist und sich als germanophil bezeichnet, wurde das altchristdemokratische Desaster besiegelt. Für seine Wähler zählte weniger die vielseits gerühmte wirtschaftliche und finanzpolitische Kompetenz des Staatsoberhauptes, sondern eher, daß er ein erklärter Verfechter des Mehrheitswahlrechtes und des parteipolitischen Bipolarismus ist. Das Signal ist überdeutlich. die beiden großen Parteienbündnisse einigten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten. Erstmals in der republikanischen Geschichte Italiens wurde der neue Hausherr am Quirinal bereits im ersten Wahlgang gewählt.

Er erreichte sofort das Quorum von zwei Dritteln der 1010 Wahlmänner (die beiden Parlamentskammern in gemeinsamer Sitzung und weitere Vertreter der zwanzig Regionen), das für die ersten drei Wahlgänge vorgesehen ist. Ab dem vierten Wahlgang genügt die absolute Mehrheit. Bei der Wahl seines Amtsvorgänger konnte sich die Wahlversammlung erst nach drei Wochen ununterbrochener Sitzung und 16 Wahlgängen auf den Christdemokraten Oscar Luigi Scalfaro einigen. Die Linksdemokraten (DS), die das Mitte-Links-Bündnis anführen, sowie die rechtsliberale Forza Italia (FI) und die postfaschistische Allianza Nazionale (AN) vom Mitte-Rechts-Block wollen das britische System etablieren. Die Bürger sollen de facto nur noch zwischen zwei Möglichkeiten wählen können: Rechts und Links. Ein Wechsel der Regierungsverantwortung zwischen beiden Polen soll zukünftig zur Normalität gehören und politische Stabilität garantieren. Die Verlierer sind die Altkommunisten, die Lega Nord und die Altchristdemokraten. Letztere versuchten, unabhängig von ihrer derzeitigen Bündniszugehörigkeit, vor der Präsidentenwahl verzweifelt, das höchste Staatsamt in ihren Händen zu behalten, wohl wissend, was der Verlust bedeutete. Der Vorsitzende der Italienischen Volkspartei Franco Marini meinte: "Wenn es uns nicht gelingt, einen Volksparteiler in den Quirinal zu wählen, dann sind wir erledigt."

Nach der Wahl Ciampis wird nun die möglichst rasche Verwirklichung des reinen Mehrheitswahlrechtes erwartet. Damit wollen die Linksdemokraten endlich die lästige kommunistische Konkurrenz an ihrem linken Rand loswerden, die immerhin acht Prozent hält. Beide Blöcke gemeinsam wollen sich aber auch der separatistischen Lega Nord entledigen, die zwischen acht und zehn Prozent pendelt. Von ihrem Ende hofft vor allem das Mitte-Rechts-Bündnis zu profitieren. Ein gleichfalls gemeinsames Anliegen ist es, die verbliebenen Reste der DC endgültig zu beseitigen. Künftig soll es keine fliegenden Wechsel mehr geben. Sobald die aus den Wahlen hervorgegangenen Sieger ihre Mehrheit wieder verlieren, soll das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Dem Wähler soll damit die Entscheidung über eine neue Mehrheit vorbehalten bleiben und den Parteizentralen diese endgültig entzogen werden. Dafür soll der neue Staatspräsident garantieren. Silvio Berlusconi von der Forza Italia hat nie vergessen, daß das 1994 siegreiche Mitte-Rechts-Bündnis seiner Partei mit der rechten Allianza Nazionale und der Lega Nord durch das Ausscheren der letzteren gestürzt wurde und Staatspräsident Scalfaro Neuwahlen bewußt so lange hinauszögerte, bis das Mitte-Links-Bündnis mehrheitsfähig geworden war.

Europawahlen reizen den Wähler zu Experimenten

Die anstehenden Europawahlen dürften, wenn es nach dem Willen der Großparteien geht, die letzten Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht sein. Altkommunisten, Lega und Christdemokraten wissen, daß das Europaparlament damit auch die letzte Vertretung sein könnte, in der sie auf überregionaler Ebene als eigenständige Parteien präsent sind. Ihnen bleibt im angestrebten reinen Mehrheitswahlrecht nur die Alternative, sich einem der Blöcke anzuschließen und unterzuordnen, oder trotz beachtlicher Wähleranteile ausgegrenzt zu bleiben und das Schicksal der britischen Liberaldemokraten zu erleiden. Von ihrem Abschneiden bei den Europawahlen hängt es ab, wieviel Gewicht sie bei den Verhandlungen über das neue Wahlrecht in die Waagschale werfen können. Bei der Präsidentenwahl zeigten ihnen die großen Bündnisse, daß notfalls auch über ihre Köpfe hinweg entschieden werden kann.

Die jüngsten Umfragen der führenden Meinungsforschungsinstitute zeigen eine weitgehende Übereinstimmung: Demnach liegen die Hauptantagonisten, Linksdemokraten (DS) und Rechtsliberale (FI), mit rund 20 Prozent Kopf an Kopf. Es folgen mit fast 19 Prozent deutlich im Aufwärtstrend die rechte Alleanza Nazionale, während die Lega Nord und die Altkommunisten mit etwa sieben Prozent rechnen können. Bei der Lega, die nur in Norditalien kandidiert, geht es in erster Linie darum, ob sie führende Kraft der wirtschaftsstarken Regionen "Padaniens" bleibt. Das Mitte-Rechts-Bündnis liegt in einer direkten Konfrontation wieder vor dem Mitte-Links-Block. Forza Italia will die Europawahlen nutzen, um an den einmaligen Wahlerfolg von 1994 mit über 30 Prozent möglichst anzuknüpfen und italienweit stärkste Partei zu werden. Ein Kuriosum bildete die Einbindung der italienischen Parteien in die Fraktionen des Europaparlaments. Der Europäischen Volkspartei (EVP) gehörten in der laufenden Legislaturperiode sowohl die italienische Volkspartei PPI vom Mitte-Links-Bündnis als auch die Forza Italia vom Mitte-Rechts-Bündnis an. Hinzu kam noch der Vertreter der Südtiroler Volkspartei (SVP). Nach der PPI-Niederlage bei der Staatspräsidentenwahl setzt sich nach Auffassung namhafter politischer Beobachter auf europäischer Ebene immer deutlicher Berlusconis Forza Italia als Vertretung christdemokratischer und bürgerlicher Interessen durch und scheint zum ersten italienischen Ansprechpartner der EVP zu werden, bei der seine Partei zunächst nur geduldet wurde.

Zwei neue Listen können möglicherweise eine Überraschung bringen. Gerade Europawahlen reizten die Bürger schon in der Vergangenheit zu Experimenten. Neu im Rennen befindet sich die Liste "Die Demokraten" des soeben gewählten EU-Kommissionsvorsitzenden und ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi und des durch die Schmiergeldermittlungen bekannt gewordenen ehemaligen Mailänder Staatsanwaltes Antonio Di Pietro. Sie gehört dem Mitte-Links-Bündnis an und soll nach den Vorstellungen der Linksdemokraten den PPI möglichst aufsaugen. Eigens für diese Wahl tritt auch die ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino mit einer nach ihr benannten und von ihrem Mentor, dem nimmermüden Radikalen Marco Pannella unterstützten Liste an. Sie steht dem Mitte-Rechts-Bündnis nahe, ohne diesem anzugehören. Umfragen räumen den Demokraten ein Wählerpotential von etwa sieben Prozent und der Bonino-Liste von etwa fünf Prozent ein.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen