© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Europawahl II: Eine Bilanz der Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen
"Ökologie? Da war doch mal was"
Gerhard Quast

Von Beginn an gehörte offen ausgetragener Streit zum Bild grüner Parteitage. Die innerparteiliche Krise im Zusammenhang mit der Kosovo-Debatte auf dem Bielefelder Parteitag stellt somit keine allzu große Besonderheit dar. Auch die erfolgten und noch angedrohten Austritte, sowie die für den kommenden Sonntag geplante Zusammenkunft einiger von den Grünen Enttäuschter um Eckhard Stratmann-Mertens ist nichts sonderlich Neues für die 1980 gegründete Partei. Grüne Abspaltungen haben durchaus Tradition. Erinnert sei an den wertkonservativen Flügel um Herbert Gruhl und Baldur Springmann, der schon Anfang der achtziger Jahre aus der Partei gedrängt wurde und zur Gründung der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) führte, sowie an die Linksfundamentalisten um Jutta Ditfurth, die sich seither als Ökologische Linke dem Kampf gegen die Grünen verschrieben haben. Auch Personen wie Thomas Ebermann oder Jürgen Reents (heute Chefredakteur der PDS-nahen Tageszeitung Neues Deutschland) sind den tiefgreifenden Veränderungen der Grünen zum Opfer gefallen.

Die Grünen haben nicht nur personell Federn lassen müssen, sie haben sich auch programmatisch gewandelt. Wohlgesonnene würdigen heute diesen Prozeß als "Erwachsen-werden" oder tun ihn als "Anpassung an die Realitäten" ab. Wertkonservative oder Ökolinke sehen darin einen Verrat an den Positionen der einstigen Ökopartei. Was ist heute beispielsweise von den vier Säulenheiligen "ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei" geblieben? Oder inwieweit kann noch von einer Anti-Atom-Partei gesprochen werden?

Ein Blick in das Programm zur Bundestagswahl ("Grün ist der Wechsel") und in den Koalitionsvertrag vom Oktober 1998 macht deutlich, daß die Mythen von einst längst der Vergangenheit angehören. Der "mythisch überhöhte Antikapitalismus, dessen Befürworter zahlreicher als die kleine Schar der Ökosozialisten waren", ist verblaßt. Anfang der neunziger Jahre "waren die Grünen in der Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft angekommen", bilanziert der Sozialwissenschaftler Helmut Wiesenthal die Entwicklung. Selbst "der für die Parteigründung konstitutive Technikpessimismus" sei längst überwunden, schreibt er in einem Essay in der Kommune. "Empfindlich geschwächt und im Begriff ganz zu entschwinden, ist der Mythos unbedingter Gewaltlosigkeit", so Wiesenthal. "Ebenfalls geräuschlos entschwunden ist die einst so mobilisierende emphatische Wachstumskritik. (…) Auch die aus der Gründungszeit der Grünen stammende Verbindung von positiver Naturmystik und negativer Politischer Ökonomie ist zerbrochen. (…) Alles in allem können die heutigen Grünen als eine ausgesprochen mythenarme politische Kraft gelten, die sich eher durch eine Unterbilanz als einen Überbestand an ‘letzten’ Wahrheiten auszeichnet", schlußfolgert Wiesenthal.

Das schlägt sich auch in der praktischen Politik der Grünen nieder. Zwar werden immer noch "unumstößliche Wahrheiten" verkündet – "eine ausdrückliche Verabschiedung würde als schmerzhafter Identitätsbruch empfunden", fürchtet Wiesenthal –, unterm Strich bleibt dann aber doch nur ein stark relativierender Forderungskatalog.

Das Parteiprogramm der Grünen ist Makulatur

Wie die ersten Monate der rot-grünen Koalition gezeigt haben, ist nicht nur das bündnisgrüne Parteiprogramm Makulatur, sondern auch der schnell zusammengeschusterte Koalitionsvertrag. Besonders deutlich wurde das an der Atompolitik. In den Monaten vor der Bundestagswahl bedienten sich die Grünen in dieser Frage noch radikaler Attitüden ("Einstieg in ein Ausstiegsgesetz"). Im Koalitionsvertrag war immerhin noch davon die Rede, den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie "innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar" gesetzlich zu regeln. Heute ist die Rhetorik der ersten Monate verflogen. Die einstige Anti-Atom-Partei droht "zur gefährlichsten Pro-Atom-Partei" zu werden, schimpft Jutta Ditfurth in ihrer Zeitschrift ÖkoLinx. "Die Grünen mutieren zu ModernisierungsidiotInnen für die weltweit agierenden Atomkonzene."

Auch andere Forderungen der Grünen entpuppten sich inzwischen als trojanisches Pferd, wie das 100.000-Dächer-Photovoltaik-Programm, als Möchte-gern-Reformen, wie die Energiesteuer, die fälschlicherweise als ökologische Steuerreform firmiert, oder wurden erst gar nicht in Angriff genommen: Von einer ökologisch sinnvollen Umgestaltung des Systems des Grünen Punkts, einer erweiterten Kennzeichnungspflicht für Gen-Food, einem Moratorium für Freisetzungsversuche, einem Verbot der Genmanipulation von Tieren oder einer Besteuerung von Kerosin ist bis heute weit und breit nichts zu sehen.

Entsprechend ernüchtert ist die Stimmung bei den Umweltverbänden, die sich von dem Regierungswechsel eine umweltpolitische Wende erhofft hatten. Hubert Weinzierl, langjähriger BUND-Vorsitzender, zeigte sich gegenüber der Woche enttäuscht darüber, "wie gewaltig die Kluft zwischen Parteiprogramm, Koalitionsvereinbarung und politischer Wirklichkeit ist, seitdem Rot-Grün Deutschland regiert". Um so mehr sei jetzt wieder die Ökologiebewegung als außerparlamentarische Opposition gefordert. Nicht viel anders sieht die Kritik des Naturschutzbundes (NABU) aus, der seit Monaten auf die Einhaltung des rot-grünen Koalitionsvertrages pocht.

Kritik kommt auch von den Unabhängigen Ökologen Deutschlands (UÖD). Der 1991 aus der ÖDP hervorgegangene wertkonservative Verband bemängelt vor allem die halbherzig durchgeführte ökologische Steuerreform. "Wer den kleinen handwerklichen Mittelstand belastet, die größten Energieverschwender des Landes aber von Abgaben befreit, erweist der ursprünglichen Idee der Ökosteuer einen Bärendienst", erklärt der UÖD-Bundesvorsitzende Herbert Pilch. Auch in Fragen des Widerstandes gegen die Gentechnik seien die Grünen ein "handzahmes und kreuzbraves Kabinettstück Schröders" geworden. "Es stünde einer Partei, die sich mit dem Etikell ‘grün’ schmückt, gut an, ihre Kraft wieder auf die Umweltpolitik zu konzentrieren und nicht in multikulturellen Weltbeglückungsutopien zu vergeuden", heißt es in einer Erklärung der Unabhängigen Ökologen.

Die beschlossene "Ökomehrwertsteuer" sei "kein ökologisches Konzept", sondern "ein Ablaßhandel für die Reichen", urteilt Jutta Ditfurth. "Wer Geld hat, darf weiter vergiften." Auch sonst läßt die einstige Mitstreiterin kein gutes Haar an der grünen Politik: "Ökologie? Da war doch mal was", frotzelt Ditfurth weiter. "Jeden ernsthaften Widerstand gegen Gentechnik haben die Grünen aufgegeben. Sie werden in Sachen Atomenergie nicht einmal mehr ‘harte’ Verhandlungen mit der SPD für ein überflüssiges ‘Ausstiegsgesetz’ führen. (…) Der Plan für einen tatsächlichen Umbau des Energiesystems auf der Grundlage regenerativer Energien wurde aufgegeben."

Die Stärke der Grünen "bestand und besteht darin, daß sie in zentralen Fragen punktuelle Mehrheiten in der Gesellschaft unverfälscht repräsentieren", glaubte Jürgen Trittin noch vor einigen Jahren festgestellt zu haben. Dies gelte "für die Umweltpolitik, für ihr Bekenntnis zur Friedensstaatlichkeit sowie für eine Politik zur Gleichberechtigung von Frauen", schreibt er 1993 in "Gefahr aus der Mitte". Und gibt zu bedenken: "Die Grünen müssen allemal die Frage beantworten, ob nicht außerhalb der Regierung mehr zu verhindern ist als in ihr und ob die Chance, sich in Einzelfragen durchzusetzen, nicht zu teuer erkauft wird durch die Einbindung in Entscheidungen, deren Inhalt Grüne nicht oder nur schwer vertreten könne, welche aber in solchen Bündnissen unabweisbar sind." – Diese Situation scheint jetzt eingetreten zu sein. Daß der Wähler die Bündnisgrünen bei der Europawahl dafür abstrafen wird, kann als sicher vorausgesetzt werden.

In dieser Reihe erschien in der vergangenen Woche der Beitrag "Hanffelder statt Nerzfolter" über die Tierschutzpartei. In der kommenden Ausgabe folgt ein Portrait der Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP).


 
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