© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Karl Schlögel: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert
Unter rotem Stern und Hakenkreuz
Doris Neujahr

Wer vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Zug aus Berlin nach Petersburg reiste, passierte die ostpreußische Grenzstation Eydtkuhnen; hier mußte man den Zug wechseln, weil die Spurenbreite sich änderte. Der erste Ort auf dem Gebiet des russischen Zarenreiches war das litauische Wirballen. Im zweiten Kapitel des Buches "Eydtkuhnen oder die Genese des Eisernen Vorhangs" sind zwei Fotos abgebildet, die im Sommer 1914 an der deutsch-russischen Grenze aufgenommen wurden. Zollbeamte und Zivilisten beider Länder haben sich friedlich vor der Kamera versammelt. Nichts deutete darauf hin, daß hier in wenigen Tagen das Inferno des Weltkriegs losbricht, der das alte Europa in eine Welt von gestern verwandelt. Mit der Folge, daß sich auf dem Kontinent militante Ideologiestaaten etablieren, zuerst unter dem roten Stern in Rußland, später auch in Deutschland unter dem Hakenkreuz.

Dadurch erhielt das deutsch-russische Verhältnis in diesem Jahrhundert eine explosive Brisanz und prägte das Gesicht Europas in ungeahnter Weise. Ein steinernes Symbol seiner hybriden Wendungen ist bis heute die nach dem Zweiten Weltkrieg erbaute, pompöse russische Botschaft Unter den Linden in Berlin, die eher dem Sitz eines Generalgouverneurs als einer diplomatischen Vertretung entspricht. Seit 1989 ist dieser imperiale Machtanspruch obsolet. Die Blicke können von beiden Seiten frei über die ehemals reich gegliederte Landschaft der deutsch-russischen Beziehungen schweifen, die nun nicht mehr mit Begriffen wie "Rapallo", "Hitler-Stalin-Pakt", "Kommissar-Befehl" oder "Chrustschow-Ultimatum" verstellt sind.

Karl Schlögel, Osteuropa-Historiker an der Universität Frankfurt/ Oder, bekannter Buchautor und Publizist, hat eine großangelegte Bestandsaufnahme der bilateralen Beziehungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vorgelegt, die Kultur, Politik, Diplomatie, Wissenschaft und Militärwesen zwischen 1900 und 1945 erfaßt. Pars pro toto steht Berlin hier als Schnittstelle, Transformator, als Zentrum russischer Einwanderung. Der Untertitel "Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert" ist allerdings nicht ganz korrekt; die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, der "Kalte Krieg" oder unmittelbare Kriegsfolgen wie die Vertreibung und deutsche Gebietsabtretungen spielen keine Rolle; sie hätten auch den Rahmen des Buches gesprengt.

Eine deutsch-russische "Erbfeindschaft" gab es nicht, sie wurde auch nach der Oktoberrevolution nicht empfunden. So manche alte Verbindung aus monarchistischer Zeit überstand zunächst die revolutionären Stürme. Der sowjetische Außenminister Tschitscherin beispielsweise war ein Aristokrat und verstand sich mit dem deutschen Botschafter Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, der von 1922 bis zu seinem Tod 1928 in Moskau amtierte, über alle ideologischen Grenzen hinweg. Das Verbindende war ihre Herkunft und ein traditioneller Verhaltenskodex. Erst in den 30er Jahren wurden die Diplomaten alter Schule durch Parteikarrieristen neuen Typs ersetzt – in der Sowjetunion durchgehend, in Deutschland ansatzweise.

Um nur ein Beispiel für die Ironie des Klassenkampfes zu nennen: Lenins enger Mitstreiter Karl Radek, der von Februar bis Dezember 1919 als "Spion einer kriegführenden Macht" im Gefängnis Moabit einsaß, unterhielt dort einen "politischen Salon", in dem ihn hochrangige deutsche Politiker und Militärs aufsuchten. Radek wiederum veranlaßte die Übersetzung der geopolitischen Schriften Karl Haushofers, der auf diese Weise die Führung der Kommunistischen Internationalen inspirierte, gesellschaftliche Entwicklungen auch in ihren räumlichen Dimensionen wahrzunehmen. Man hat Haushofer sogar als geopolitischen Berater Stalins bezeichnet. Im gesamten politischen Spektrum Deutschlands war eine regelrechte Rußland-Affinität verbreitet; nur fühlte man sich ausgerechnet im antiwestlichen und antidemokratischen Ressentiment mit dem roten Riesenreich verbunden. Mit für beide Länder bitteren Folgen: General Hans Krebs, der im April 1945 in Berlin mit sowjetischen Generälen über die Kapitulation verhandelte, hatte seine Russischkenntnisse erworben, als er in der Weimarer Republik heimlich die Kooperation von Roter Armee und Reichswehr betrieb und später als Militärattaché in Moskau agierte. Karl Schlögel hat eine ganze Reihe solcher schicksalhafter, sinnfälliger Koinzidenzen ausgegraben.

Er ist ein hervorragender Essayist und hat originelle Zugänge zu seinem riesigen Stoff gewählt. So hat er ein Kapitel über die deutsch-russischen Eisenbahnlinien verfaßt, schließlich verband der Schienenstrang zwischen Berlin und Moskau "die Epizentren der Erschütterungen des zwanzigsten Jahrhunderts". Als der Sitz der Regierung von St. Petersburg nach Moskau verlegt wurde und Polen und die baltischen Staaten unabhängig wurde, wurde Brest zum wichtigsten Grenzübergang nach Rußland. In westeuropäischen Reiseberichten, die keineswegs nur aus den Federn gläubiger Kommunisten stammten, wurde diesem Bahnhof regelmäßig eine symbolische Bedeutung als eine Art Zeitschleuse zugeschrieben, durch die man von der Vergangenheit in die Zukunft gelangte.

Durch die nachrevolutionäre Emigrationswelle aus Rußland avancierte Berlin zur "russischen Stadt" – der Innenstadtbezirk Charlottenburg hieß im Volksmund "Charlottengrad" – und zum "Ostbahnhof Europas". Die Züge aus Rußland endeten am Schlesischen, dem heutigen Ostbahnhof. Bereits im Juni 1945 hatten die russischen Sieger eine Breitspurbahn von Moskau bis hierher fertiggestellt. Was immer sich damit an noch weitergehender, imperialer sowjetischer Zukunftsplanung verbunden haben mag, am Ende dieses Jahrhunderts hat es sich glücklicherweise nicht erfüllt.

Selbst ein sehr umfangreiches Buch kann ein derart komplexes Thema nicht zur Gänze abdecken und vieles nur andeuten. Manches bleibt blaß. Arno Widmann hat dafür in der Berliner Zeitung formale und stilistische Gründe genannt, Schlögel besitze zwar den Blick des Künstlers, doch nicht dessen Mut. Solche Kritik mag zutreffen, bleibt aber an der Oberfläche. Schlögel hätte, um die Tiefendimensionen der deutsch-russischen Anziehung tatsächlich empathisch zu erfassen, wesentlich stärker auf ihre geistig-kulturellen Grundlagen und historisch tradierten Argumentationsmuster eingehen müssen: Beginnend mit Nietzsche, dessen Empfindungen für Rußland zwischen Furcht und Faszination schwankten, der im Osten eine kulturelle Vitalität sah, die im westeuropäischen Kulturkreis längst abgestorben war, und bei dem sich Sätze finden wie: "Wir brauchen ein unbedingtes Zusammengehen mit Rußland und mit einem neuen gemeinsamen Programm, welches in Rußland kein englisches Scheinwesen zur Herrschaft kommen läßt. Keine amerikanische Zukunft". Es fehlt der Name Ernst Blochs samt seines "Ex oriente lux", es fehlt Rilke, dem Rußland die "Wendung ins Eigentliche brachte" und der zur Zeit seiner größten Rußland-Schwärmerei in Berlin-Schmargendorf wohnte, es fehlt ein Hinweis auf die weitverbreitete russophile Traktat-Literatur. Unerwähnt bleibt die Rolle Mereshkowskis und Moeller van den Brucks als Dostojewski-Herausgeber, und der Nationalbolschewist Ernst Niekisch, der seine Erwartungen in die enthusiastischen Worte faßte: "Der Gang nach Westen war deutscher Abstieg; die Umkehr zum Osten wird wieder Aufsteig", wird nur nebenbei erwähnt. Deutscher Romantizismus, messianische Heilserwartung und politisches Tagesgeschäft flossen schließlich in den Versen des kommunistischen Lyrikers Johannes R. Becher zusammen, der Ende der 20er Jahre die Fahrt über die sowjetische Grenze so beschrieb: "Wir kamen vom Westen. Wir waren / verstört und ohne Ruh. / Wir wußten nur dumpf: Wir fahren – / fahren der Heimat zu".

Zur Zeit geht es um eine Neudefinition des deutsch-russischen Verhältnisses. Schlögels Buch ist, trotz dieser Einwände, das geschichtliche Standardwerk zum Thema.

 

Karl Schlögel: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Siedler Verlag, Berlin 1998, 368 Seiten, 68 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen